Armin Thurnher
Laudatio zum Ehrenpreis des öst. Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, kennen Sie den? Bekommt ein Preisträger einen Preis für Toleranz im Denken und Handeln, steht dem Begriff Toleranz aber leicht reserviert gegenüber?
Das ist keine Pointe. Der Preisträger hat nämlich einen Lobredner, der für ihn den Begriff der Toleranz verteidigt. Der Preisträger wird dann selber zum Thema sprechen. Der Lobredner bekam vor ein paar Jahren den gleichen Preis, was er nur erwähnt, weil ihn einzelne Gratulanten damals wissen ließen, dass sie sich schon wunderten, warum ausgerechnet ein intoleranter Arsch wie er diesen Preis bekäme.
Es gibt doch eine kleine Pointe bei dieser Rede. Dass nämlich ich rede und Doron Rabinovici zuhört. Meist war es umgekehrt. Zum Beispiel am 12. 11. 1999 auf dem Wiener Stephansplatz, als eine recht große Masse sich zu einem vergeblichen ersten Protest gegen Schwarzblau formierte. Es war sehr kalt, wir froren alle, ich erinnere mich, dass mir Peter Kreisky seinen Shawl borgte, der zu meinem Erstaunen von Knize stammte, dem alteingesessenen Geschäft für elegante Bekleidung ein paar Häuser weiter. Ehe ich fragen konnte, erklärte Peter entschuldigend, den habe er von seinem Vater geerbt. Ich trug also Bruno Kreiskys Schal, während auf dem Podest Doron Rabinovici sprach.
Es war weder die erste noch die letzte Kundgebung, bei der ich unten stand und ihm zuhörte. Ich kann sagen, ich habe so lange als Demonstrant unter ihm gedient, dass es nur würdig und recht ist, dass nun einmal er mir zuhören muss.
So oft ich ihn, den öffentlichen Sprecher, erlebt habe, war ich froh, einen wie ihn zu hören, der scharf und artikuliert einen linken Standpunkt vertritt. Einen Redner, um den, aller Solidarität der anwesenden Massen zum Trotz, wie mir schien, immer ein zarter Schimmer von Einsamkeit liegt und lag.
Ich denke, dieser Hauch von Einsamkeit kommt daher, dass Doron Rabinovici ein Bürger ist, wie er im Buch steht. Nämlich in jenem Buch, wo man den Citoyen noch vom Bourgeois unterscheidet. Er ist ein Citoyen, ein Republikaner. Ein Bürger solcher Art ist in Österreich noch immer eine Einzelerscheinung.
Doron Rabinovici ist ein öffentlicher Intellektueller, dank der Gnade einer späten Geburt nicht mit dem Makel des 68-ertums versehen. Er ist, wenn schon, ein 1986er. Die 68er rieben sich an den Nazi-Vätern, die 86er an den Nazi-Großvätern. Der Protest der 68 war psychisch, jener der 86er historisch grundiert. Von vielen seiner geschichtsfühligen Generation unterscheidet sich Doron Rabinovici durch die historische Präzision seines Blicks. Seine Arbeit „Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat“ entzieht sich dank ihrer Genauigkeit dem gemütlichen Ausweg des einfachen Urteils ebenso wie der Wärme der solidarischen Gruppe. Auch in seinen historischen Aufsätzen verweigert Doron Rabinovici befriedigende und behagliche Schlüsse, wie er selbst sagt. Eine Antwort, wie zum Beispiel mit Bildern der Massenvernichtung von Juden umzugehen sei, muss bei ihm offen bleiben – Bildverbot wie verklärendes Passionsbild führen ins Jenseits und ersparen uns die Auseinandersetzung hier und jetzt.
Solche Auseinandersetzungen führen ihn zu beunruhigenden Sätzen wie diesem, der sich in seinem Essayband Credo und Credit findet: „Wie ein roter Faden zieht sich die Blutspur des Antisemitismus durch die Geschichte des Abendlandes, denn das Pogrom ist zwar keine Notwendigkeit, aber allemal eine Möglichkeit.“
Das sagt mit der gebotenen Kaltblütigkeit einer, der die Gnade der Geburt von einer jüdischen Mutter hat. Geboren 1961 in Tel Aviv, 1964 nach Wien gekommen, ein echter Österreicher also, wie der echte Österreicher sagt, wenn er unauffällig seine reservatio mentalis ausdrücken will.
Dem Österreicher Doron Rabinovici wurde mit der Verbindung zu seiner Mutter auch eine Beziehung zu den Nazi-Mördern in die Wege gelegt. Der österreichische SA-Mann Franz Murer, genannt der Schlächter von Wilna, pflegte entkräftete Jüdinnen und Juden vor Zeugen zu erschießen. Er entriss in dieser litauischen Stadt einer jüdischen Mutter ihren Säugling und zerschmetterte ihn vor deren Augen an einer Wand. Im gleichen Wilna, wo Doron Rabinovicis Mutter, als Kleinkind in einen Sack eingenäht, den Mördern entkam.
Das alles war über diesen Murer bekannt, als er, mittlerweile einstimmig gewählter Obmann der Landwirtschaftskammer Liezen, im Graz der 1960er Jahre von einem österreichischen Gericht freigesprochen wurde. Doron Rabinovici teilt uns mit, dass am Tag der Urteilsverkündung sämtliche Blumengeschäfte der Stadt leergekauft waren. Man überreichte die Blumen dem Freigesprochenen vor dem Gerichtsgebäude. Murers Blumen. Welch zartes, grausames und eindringliches Bild für den doppelten Skandal dieses Freispruchs und dieses Triumphs der Bevölkerung!
Doron Rabinovici hat im Burgtheater mit Matthias Hartmann das gefeierte Zeitzeugenstück Die letzten Zeugen gestaltet. Er hat damit wie in seinen Aufsätzen zu Geschichte, Judentum und Antisemitismus auf das in einem Blumenmeer von Skandalen prangende Nachkriegsösterreich reagiert. Dank der Nachfolgepartei und eines ihr jahrzehntelang günstigen und mit Regierungsgeldern begünstigten Presse konnte dieses blumige Milieu auch ins Nachfolgejahrtausend herübergerettet werden, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Heutzutage wird man wegen Antisemitismus aus der FPÖ geworfen. Damit niemand fragt, wie man dort hineingekommen und groß geworden ist.
Doron Rabinovici stellt sich als Schriftsteller in bisher drei Romanen und einem Erzählband dem Thema, wie man mit israelisch-österreichischer Identität heute Jude sein kann. Das ist ganz offenbar nur mit Aberwitz zu ertragen, und Doron, der auch eine witzige Anleitung, jüdische Witze zu erzählen, geschrieben hat – weswegen ich Ihnen hier sicher keinen erzählen werde – wird dieser selbstgestellten Aufgabe auf luzide und lustige Weise gerecht. Wie sonst als in der Anarchie des Witzes können wir den uns umgebenden Wahnsinn ertragen?
Ich habe, um noch ein anderes Blatt unserer Zeitgeschichte aufzuschlagen, auch die Haltung bewundert, mit der Doron Rabinovici in einem Streitgespräch mit dem palästinensischen Studentenvertreter Hassan Habakzeh reagierte, das ein ambitionierte junger Journalist namens Christian Rainer im Juni 1988 für den Falter moderierte. Der Jude fragte den Palästinenser, was er von Gleichsetzungen Israels mit der SS und palästinensischen Flüchtlingslagern mit Konzentrationslagern halte. Dieser antwortete: „Die Konzentrationslager waren Lager zum Töten, das sind die Flüchtlingslager auch. Wie unterschiedet sich das, was die israelischen Soldaten heute tun, von dem, was die SA und SS früher getan hat? Es unterscheidet sich nicht.“
Rabinovici blieb ruhig und wies das scharf zurück, übrigens ohne den Großmufti von Jerusalem zu bemühen. Der Eingangssatz seiner Replik lautete: „Es ist immer ein Problem, hier in Österreich als Jude mit irgendjemandem über dieses Thema zu diskutieren.“ Ich vertiefe das hier nicht weiter, weise aber darauf hin, dass allein schon diese besonnene Reaktion den Erhalt jedes Toleranzpreises gerechtfertigt hätte.
An dieser Stelle darf ich meine kurze Verteidigung von Toleranz einflechten. Toleranz bedeutet nämlich Duldung, aber Duldung gerade dessen, mit dem man nicht übereinstimmt. Dass in dieser Duldung eine Hierarchie steckt, versteht sich. Jemand legt den Rahmen dessen fest, was geduldet wird. Es fragt sich nur, was man in diesem hierarchischen Verhältnis stärker betont: die Anerkennung dessen, mit dem man nicht übereinstimmt, oder die darin steckende Herablassung. Den Respekt, der in Toleranz steckt, oder die bloße Duldung.
Natürlich braucht es auch Zero Tolerance. Hier gilt eine einfache Faustregel: Wir müssen alles tolerieren, außer dem, das wir zurückweisen müssen, weil es intolerabel ist. Da heißt es, kühlen Kopf zu bewahren. Was in der augenblicklichen Situation offenbar nicht immer gelingt.
Vor über zehn Jahren schrieb der holländische Schriftsteller Leon de Winter: „Wir sollten die Arroganz aufbringen, unsere neuen islamischen Mitbürger Verträglichkeit, Individualität und die Rechte und Pflichten des modernen Bürgertums zu lehren, doch wir lassen uns von den Illusionen des Multikulturalismus lähmen. Seit den sechziger Jahren machen wir uns selbst weis, alle Kulturen seien gleichwertig. Wenn das so wäre, wäre Kannibalismus nur eine Frage des Geschmacks. In den Niederlanden wie in ganz Europa wird der Druck der Intoleranten auf unsere Toleranz zunehmen. Uns bleibt keine andere Wahl: Wir müssen eine Weile die Tore schließen und uns auf die Frage besinnen, wer wir sein wollen und was wir dafür zu opfern bereit sind. “
Hier zeigt sich ein Argumentationsmuster: Dem richtigen Argument, wir sollten Bürgerlichkeit lehren und uns besinnen, wird ein falsches beigemischt. Wir machen uns nämlich nicht „seit den sechziger Jahren“ des 20. Jahrhunderts etwas weis, sondern unsere gesamte aufgeklärte Kultur beruht seit Bayle, Voltaire, Rousseau, Kant, Lessing und Goethe auf der Annahme der Toleranz. Der Verzehr von Menschen gehört nicht zum Programm des Islam; in unseren Gegenden war er hingegen stellenweise noch vor eineinhalb Jahrtausenden en vogue. Es geht also nicht um Gleichwertigkeit, sondern darum, genau das Anderswertige herauszupräparieren, das, was nicht, und das, was an einer anderen Kultur samt deren Religion eben doch tolerabel ist.
Das Zentrum für interreligiösen Dialog in Wien zum Beispiel ist es nicht. Doron Rabinovici hat hier klare Worte gefunden, ich stimme mit ihm überein. Das saudiarabische Regime lässt freitags köpfen und den kritischen Blogger Raif Badawi auspeitschen. Nach dem Urteil von Patrick Cockburn, einem der besten Kenner des Nahen Ostens, stellt die von Saudi-Arabien finanzierte „Wahhabisierung des sunnitischen Mainstream-Islam eine der größten Gefahren unserer Zeit“ dar. Schiiten leben Cockburn zufolge heute in mehrheitlich sunnitischen Ländern mit einem Gefühl von bevorstehendem Verhängnis wie Juden in Deutschland 1935. Von jüdischen und christlichen Minderheiten zu schweigen. Dieses Zentrum spricht also keineswegs für „unsere islamischen Mitbürger“. Seine Geldgeber finanzieren Intoleranz. Das ist untragbar.
Welche Gründe gibt es, nicht mit Toleranz zu sympathisieren? Der Staatsrechtler Carl Schmitt, Kronjurist der Nazis, ein brillanter Denker, der heute wieder vielfältige Konjunktur hat, schrieb über den jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn, als dieser vom Staat Gewissensfreiheit verlangte, habe er das in der Überzeugung getan, „dass eine solche Unterminierung und Aushöhlung der staatlichen Macht zur Lähmung des fremden und zur Emanzipation des eigenen jüdischen Volkes am besten dient“. Toleranz ist ein Zeichen der Schwäche, lautete die Parole im Naziregime. Und wenn immer und von wem immer sie aufgegriffen wird, ist Gefahr im Verzug.
Nun muss das Gegenteil eines Nazis nicht automatisch das Gute darstellen. Blinde Befürwortung von Toleranz ohne Grenzen ist jedenfalls nicht die Alternative. Aus einem Irrtum des österreichischen Verfassungsrechtlers Hans Kelsen können wir lernen, warum Toleranz ihre Grenzen haben muss. Noch 1932, bereits unter dem Eindruck des bevorstehenden Endes der Weimarer Republik, hielt er die Verteidigung der Demokratie gegen antidemokratische Kräfte für einen Selbstwiderspruch der Demokratie und schrieb: „Bleibt sie (die Demokratie) sich selbst treu, muss sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden“. Das richtete sich gegen jene Weimarer Gesetze, die spät, aber doch staatsfeindliche Umtriebe verbieten wollten. Kelsen trennte die Sphäre des Rechts so streng von jener der Moral, dass ihm in seinem formalen Denken jede substantiell-rechtliche Argumentation als inkonsequent erschienen wäre.
Das deutsche Grundgesetz hat das Weimarer Problem und Kelsens Frage so gelöst, dass es nunmehr zwischen formaler Toleranz und substantieller Toleranz unterscheidet – das ermöglicht eine politische Intoleranz, aber ausdrücklich begrenzt auf den Fall, „dass der Kernbereich demokratischer Legitimität von einzelnen Bürgern oder Gruppen bekämpft wird.“
Dem können wir uns anschließen. Wer was bekämpft, diese Frage ist mit Scharfsinn zu entscheiden, literarische Mittel und solche der Satire können beim Herauspräparieren der Antwort helfen. Zum King Abdallah Zentrum für den interreligiösen Dialog stellte Doron Rabinovici die einleuchtende Frage: „Was wäre von einem Friedensinstitut zu halten, das nach Benjamin Netanjahu benannt werden würde? Was von einer Karl-Heinz-Grasser-Aufklärungsbehörde gegen Korruption? Oder von einem H.-C.-Strache-Mahnmal gegen Rassismus? Wäre das nicht alles ein schlechter Witz?“
Doron Rabinovici, meine Damen und Herren, macht keine schlechten Witze. Das hilft über die stets präsente Trauer jedes Aufklärers darüber hinweg, dass die großen Probleme ebenso unlösbar sind, wie es für richtig verstandene Toleranz keine Alternative gibt.
Lieber Doron, du wirst diesen Toleranzpreis erdulden, ich werde dich dafür respektieren, nein, mehr, ich freue mich darüber und gratuliere dir herzlich dazu.