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Instanzen der Ohnmacht.

Vorbemerkung

[...] In meiner Wiener jüdischen Jugendbewegung, dem linkszionistischen "Haschomer Hazair", spielten wir zuweilen bestimmte Gerichtsverfahren nach. Die Streitsache war vorgegeben, und jede Rolle folgte einem Leitfaden, doch zumeist entwickelten wir den Prozeß im Stegreif weiter. Einer gab den Richter, ein anderer den Angeklagten; da waren ein Verteidiger und ein Kläger, die ihre Reden und Plädoyers hielten und die Zeugen ins Kreuzverhör nahmen. Ich entsinne mich eines Falles, ich dürfte im elften Lebensjahr gewesen sein, der mich besonders ergriff. Einer von uns, kaum älter als siebzehn, stand als "Judenältester" vor Gericht. "Partisanen" sagten gegen ihn aus. Andere "Überlebende" zeugten für ihn. Mitten im Österreich der frühen siebziger Jahre stellten die Jugendlichen eines jener jüdischen Ehrentribunale nach, wie sie ab 1945 in verschiedenen Ländern, vor allem in den Displaced Persons Camps, errichtet worden waren. Manche unserer Eltern mochten noch an solchen Verhandlungen teilgenommen haben. Wir Zuschauer hatten die Geschworenen zu sein und zu einem Urteil zu finden. Vorschnell und ohne viel Wissen fällten wir damals unseren Schuldspruch. Nach dem Massenmord strebten jüdische Jugendliche nach einem neuen Selbstbewußtsein und konnten sich bloß mit Widerstandskämpfern identifizieren. Unmöglich schien es, sich in die Lage der Judenräte zu versetzen. [...] [S. 9]1 Prolog
"Ein Bekannter, ein Jude in Cleveland, verlobt mit einer Deutschen, sagt mir ins Gesicht: "Ich weiß, was ihr getan habt, um euch am Leben zu erhalten." Ich wußte es nicht, aber ich wußte, was er meinte. Er meinte: "Ihr seid über Leichen gegangen." Hätte ich antworten sollen: "Ich war damals erst zwölf"? Das hieße ja: "Die anderen waren übel, ich aber nicht." Oder sagt man: "Ich bin von Haus aus ein guter Mensch", auch das im Gegensatz zu den anderen. Oder sagt man: "Wie kommst du dazu?" und macht Krach. Ich hab gar nichts gesagt, ich bin nach Haus gegangen und war deprimiert. Und in Wirklichkeit war es Zufall, daß man am Leben geblieben ist."
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend
Die Schuld des Überlebens
Der Massenmord an Millionen Juden war ein kollektives Verbrechen. Das Verbrechen war zwar zentralorganisiert, wurde aber arbeitsteilig ausgeführt und von unterschiedlichen Machtgruppen vorangetrieben. Nicht bloß Exekutive und Justiz, auch Reichsbahn und Kreditinstitute sowie Wissenschaft und Wirtschaft boten etwa ihre Dienste an, als es darum ging, Juden auszugrenzen, zu berauben, zu vertreiben und zu morden. Was in den Konzentrationslagern und hinter der Front geschah, unterlag der offiziellen Geheimhaltung, doch auch hier waren nicht wenige in die Untat verstrickt, viele in den einen oder anderen Vorgang eingeweiht. Einige bloß ahnten das Ausmaß der Verbrechen, doch beinahe alle wußten, worüber kein Wort verloren werden durfte. Wer beim Aktenstudium sehen muß, mit welchem Arbeitseifer, mit welcher Schnelligkeit und Pedanterie im Wien des Jahres 1938 die antijüdischen Maßnahmen, Erlasse und Gesetze beschlossen und durchgeführt wurden, kann sich nur wundern, wenn von der sprichwörtlichen Schlampigkeit oder Langsamkeit der Wiener Bürokratie die Rede ist. Das Verbrechen war ein gesellschaftliches Ereignis, dessen Fortschritte in den Zeitungen jubelnd vermeldet, dessen Erfolge in öffentlichen Raubzügen, in Prügelorgien, in Pogromen, wie etwa im November 1938, mit Morden, Brandlegungen und Vergewaltigungen gefeiert wurden.
Ohne Duldung und Rückhalt innerhalb der Bevölkerung wäre der Massenmord nicht möglich gewesen. Teil der Untat war es, die Opfer jeglicher Solidarität zu berauben. Sie sollten von allen verraten und ausgeliefert, dem Verbrechen vollständig ausgesetzt sein. Vor der physischen kam die soziale und psychische Vernichtung.
Am 15. Oktober 1945 brachte der Leiter der Wiener Staatspolizei gegen Wilhelm Reisz eine Anklage bei der Staatsanwaltschaft ein. Wilhelm Reisz war während der Nazi-Zeit dem SS-Scharführer Herbert Gerbing unterstellt gewesen. Unter Gerbing war Reisz an den sogenannten "Judenaushebungen" beteiligt, er hatte mit dem SS-Mann jüdische Menschen, die von den nationalsozialistischen Behörden zur Deportation bestimmt worden waren, in ihren Wohnungen aufzuspüren, ihre Namen zu notieren und ihnen beim Packen jener wenigen Sachen, die sie mitnehmen durften, zur Hand zu gehen. Das Verhalten von Reisz, bemerkte der österreichische Leiter der Staatspolizei, sei "besonders verwerflich", da er, um "sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, seine eigenen Landsleute ins Unglück stürzte".
Weshalb war Reisz eine Ausnahme? War er "besonders verwerflich", weil ansonsten Österreicher nicht, um ihrer persönlichen Vorteile willen, ihre eigenen Landsleute verraten, ausgeraubt, vertrieben, mißhandelt oder ermordet hatten? Keineswegs: Die nationalsozialistische "Judenpolitik" in Österreich war nicht eine von außen, vom deutschen "Altreich" und gegen den Willen der Bevölkerung erzwungene Maßnahme. Übereifrig machten sich österreichische Antisemiten im Jahre 1938 ans Werk, pflichtversessen trieben sie voran, was in Berlin noch unvorstellbar war. War Wilhelm Reisz also keine Ausnahme im Land, das nach 1945 nur als erstes Opfer Hitlers gelten wollte? Doch: Wilhelm Reisz war Jude - und er hatte überlebt. "Eigene Landsleute", so die Wiener Staatspolizei, "stürzte" Wilhelm Reisz "ins Unglück". Nicht unbedingt Österreicher oder gar deutsche Reichsbürger waren damit gemeint, sondern ohne Ausnahme von den Nazis als Juden Verfolgte.
Wilhelm Reisz war 1939 von der Kultusgemeinde angestellt worden, weil er bereits bewiesen hatte, sogar in schwierigen Fällen Pässe verschaffen zu können. Als ab 1941 jüdische Menschen nicht mehr vertrieben, sondern verschleppt und ermordet werden sollten, forderte die SS bei der Israelitischen Kultusgemeinde jüdische Ordner an, die den SS-Männern bei den "Aushebungen" behilflich sein sollten. Zuerst versuchte sich der Leiter der Kultusgemeinde, Josef Löwenherz, gegen das Ansinnen zu wehren. Doch die SS drohte, die Hitlerjugend würde sonst die jüdischen Menschen aus ihren Wohnungen in die Sammellager holen. Danach bestimmte die nationalsozialistische Behörde einen jüdischen Gestapospitzel mit der Rekrutierung einer brutalen Truppe. Hierauf willigte Löwenherz schließlich ein, bewährte jüdische Angestellte zu nennen, die den SS-Männern direkt unterstellt wurden. Jeden SS-Mann hatte ein jüdischer "Gruppenführer" und ein Trupp "Ausheber" zu begleiten. Wer sich weigerte, dem drohte die sofortige Deportation.
Wilhelm Reisz war "Gruppenführer" der jüdischen Ordner unter dem SS-Scharführer Gerbing. Reisz hatte sich nicht freiwillig für diese Aufgabe gemeldet und sich der Zuweisung keineswegs entziehen können. Er war als Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung gezwungen worden, zu kooperieren, und hatte sich durch Übereifer hervorgetan, um sich unentbehrlich zu machen, um selbst zu überleben. Die Zeugenaussagen über Wilhelm Reisz waren unterschiedlich. Nicht wenige beeideten, daß sie ihm ihr Leben verdankten. Wilhelm Reisz hatte anfänglich in der Auswandererabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde gearbeitet und dort Juden und Jüdinnen geholfen, vor den Nazis zu fliehen. Auch als "Gruppenführer" setzte er sich zuweilen für einzelne ein und rettete sie vor der Auslieferung. Doch bei den meisten Opfern war er als der "meschuggene Reisz" bekannt, der die Menschen, die er "aushob", grob behandelte und der den SS-Scharführer aufmerksam machte, wer für die Deportation nicht übergangen werden dürfte. Bei "Aushebungen" schickte Gerbing seinen jüdischen Untergebenen Wilhelm Reisz vor. Er selbst blieb zuweilen vor dem Haus im Wagen, oder er legte sich, während Juden aufgespürt und Wohnungen geräumt wurden, in ein Fauteuil, um ebendort seelenruhig zu schlafen. Einmal ließ er sich etwa von einem Zahnarzt seine medizinischen Apparaturen erklären, während Reisz "amtszuhandeln" hatte. Die jüdischen Zeugen schilderten Gerbing als einen "verbummelten Medizinstudenten" mit ausgesuchten Umgangsformen, "nicht so verroht und kräftig, wie die anderen Scharführer, die sich hauptsächlich aus Fleischhackern zusammengesetzt haben", meinte ein Zeuge im Prozeß des österreichischen Volksgerichts gegen Reisz, und das Urteil folgte dieser Einschätzung:
"Dieser (Gerbing) war ein verbummelter Medizinstudent, der aus besseren Kreisen stammte und sich schon dadurch von den übrigen SS-Scharführern, die die Judenaushebungen leisteten und ungebildete und rohe Kerle waren, vorteilhaft unterschied. Nach den Ergebnissen des Beweisverfahrens war Gerbing eine eher weiche Natur und ein Mensch, mit dem sich reden liess. Der Angeklagte war nun just der richtige Mann, den Gerbing benötigte (…) wurde daher von Gerbing dazu ausersehen, das auszuführen, wofür Gerbing seiner Natur nach gar nicht taugte."
Zeugenaussagen in anderen Prozessen dagegen zeigen einen Herbert Gerbing, der sich nicht gerade durch besonderes Wohlverhalten auszeichnete. Ein Zeuge einer sogenannten "Aushebung" erinnerte sich im Prozeß gegen Anton Brunner:
"Als wir das Haus verließen, war ich Zeuge, wie Gerbing einen gewissen Dr. Gross mit einem Schlagring derart bearbeitete, daß diesem das Auge heraushing und das Nasenbein gebrochen war."
Dennoch machte Gerbing viele Opfer glauben, ihn, den SS-Scharführer, ginge die "Aushebung" nichts an. Fanden seine Kollegen eher Gefallen daran, Juden eigenhändig zu quälen, scheint Gerbing es besonders genossen zu haben, Reisz an seiner Stelle fuhrwerken zu lassen. Zuweilen, wenn sie nicht zur vollen Zufriedenheit arbeiteten, wurden die "Ausheber" geprügelt, auch Reisz. Der jüdische "Gruppenführer" mußte im eigenen Interesse hoffen, immer genügend Opfer aufzuspüren. Er haftete dafür mit seinem eigenen Leben. Manchmal, wenn das "Soll" nicht erfüllt wurde, wenn Personen, die zur Verschleppung vorgesehen waren, nicht aufschienen, wurden die jüdischen Helfer an ihrer Statt in den Transport eingeteilt. Das Gericht erklärte dazu:
"Der Angeklagte hat auf diese Weise Agenden an sich gerissen, die eigentlich gar nicht zu seinem Aufgabenkreis gehörten."
Wilhelm Reisz meldete sich auch zu einer Fahrt nach Berlin. Drei österreichische Juden hatten dort vorzuführen, wie in Wien "Aushebungen" vonstatten gingen. Er wunderte sich nach seiner Rückkehr vor anderen Juden, daß in Berlin die nichtjüdische Bevölkerung den "Aushebungen" Widerstand entgegengesetzt habe. Ein Zeuge gab an, sogar in Theresienstadt hätten sich noch Berliner Juden über die Wiener Methoden beschwert, wobei sie den Namen Reisz ausdrücklich erwähnt hätten.
Das österreichische Volksgericht befand Wilhelm Reisz für schuldig und verurteilte den Überlebenden zu fünfzehn Jahren Gefängnis, einschließlich eines Vierteljahres schweren Kerkers. Fünfzehn Jahre für einen Juden, der zuvor noch zum Tode verurteilt gewesen war und dem Massenmord nur entging, weil er sich als "Gruppenführer" unentbehrlich für Gerbing gemacht hatte.
Dem Sachbearbeiter für jüdische Angelegenheiten der Gestapo in Wien, Johann Rixinger, dem "Judenreferenten", der während der Deportationen mit hoher Entscheidungsgewalt ausgestattet und am verwalteten Massenmord beteiligt gewesen war, wurden im Urteil zehn Jahre Haft zugedacht. Er mußte bloß sechseinhalb Jahre absitzen. Der Schätzmeister der Gestapo, Bernhard Wittke, wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der berüchtigte brutale Blutordensträger und SS-Mann Ernst Girzik wurde wie der unter permanenter Morddrohung stehende Jude Wilhelm Reisz ebenfalls zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Ernst Girzik wurde allerdings im Dezember 1953 vom österreichischen Bundespräsidenten amnestiert.
Der jüdische "Gruppenführer" Wilhelm Reisz erhielt also fünf Jahre mehr als Johann Rixinger. Gestapo-Beamte konnten sich auf "Befehlsnotstand" berufen, nicht so Reisz. Dabei muß betont werden, daß ein Polizeibeamter oder ein Soldat des "Dritten Reiches" sich weigern konnte, an den Verbrechen gegen Zivilisten, an Erschießungen und Massenmord teilzunehmen. Niemand wurde verfolgt, weil er sich nicht imstande sah, am Genozid mitzuwirken. Der Untergebene wurde eben nicht befördert, sondern versetzt. Reisz aber wurden seine "Fleißaufgaben" zum Vorwurf gemacht:
"Der Angeklagte hat dadurch mehr getan, als er normalerweise hätte tun müssen. Seine Zugehörigkeit zur Ordnertruppe kann ihm nach Ansicht des Volksgerichts nicht zur Last gelegt werden. In dieser Beziehung befand er sich ja in einem Notstand. Dagegen hat er aber auf Grund der Ergebnisse des Beweisverfahrens gewissermaßen ›Fleißaufgaben‹ gemacht, für die er nun einstehen muß."
Das Gericht kümmerte es nicht, daß Reisz als Jude in Wien immer bedroht gewesen war. Es stellte nicht in Rechnung, daß er für den SS-Scharführer besonders "fleißig" zu sein hatte, weil er nicht ins Vernichtungslager hatte verschleppt werden wollen. SS-Scharführer Herbert Gerbing hatte den Juden Reisz für sich eingespannt, erst bei den "Aushebungen" von 1941 bis 1943 und dann vor Gericht nach 1945. Herbert Gerbing wurde nicht verurteilt. Gerbing, 1914 im niederösterreichischen Mödling geboren, war verschwunden. Er sollte, wie viele seiner SS-Kollegen aus der Wiener Zentralstelle, nie wieder aufgefunden werden und mußte sich nicht für seine Taten verantworten.
Am Tag nachdem das Urteil verkündet worden war, erhängte sich Wilhelm Reisz in seiner Zelle. Sieben Jahre lang hatte er unter der nationalsozialistischen Verfolgung gelitten und die Vernichtung überlebt. Jetzt verübte er Selbstmord. Im Unterschied zu vielen nationalsozialistischen Verbrechern, die sich der Gefangennahme oder dem Gericht durch Selbstmord entzogen, mithin nicht das Urteil abwarteten, brachte Reisz sich erst nach dem Prozeß um. Er hatte mit solch einem Schuldspruch nicht gerechnet und sich nicht als Täter, sondern als Opfer des NS-Regimes empfunden. Sein Überleben verdankte er all dem, was ihm vor Gericht angelastet wurde. Wurde er von Schuldgefühlen eingeholt? Oder packte ihn die Verzweiflung über die Verbrecher und ihre Helfershelfer, die ihn, das Opfer, in ihre Tat verstrickt hatten und nun glimpflicher davonkamen als er?
Das Ausmaß des Urteils verwundert, besonders wenn es mit der sonstigen Spruchpraxis der österreichischen Justiz nach 1945 verglichen wird. Von den insgesamt 136000 Personen, die bis 1956 in Österreich wegen NS-Verbrechen vor den sogenannten Volksgerichtshöfen gelandet waren, wurden 108000 Verfahren abgebrochen oder eingestellt. Von den übrigen 28000 wurde knapp die Hälfte schuldig gesprochen. Viele jedoch nicht wegen der ihnen zur Last gelegten Verbrechen gegen andere Menschen, sondern bloß wegen sogenannter "Formaldelikte", wie etwa der illegalen NS-Mitgliedschaft in den Jahren 1934 bis 1938.
Reisz war zwar der einzige Jude, der vom österreichischen Volksgericht verurteilt wurde, aber auch gegen andere Wiener Juden wurden nach 1945 in Österreich und in anderen Ländern Verfahren eingeleitet. Im Februar 1949 wurde Oscar Reich in Paris vor ein Militärgericht gestellt. Oscar Reich, 1914 in Wien geboren, war in seiner Heimatstadt ein bekannter Fußballspieler gewesen und hatte 1938 nach Frankreich fliehen können, da die "Association sportive de Cannes" ihn unter Vertrag genommen hatte. Nach Kriegsausbruch war er für längere Zeit in verschiedenen Lagern im Vichy-Frankreich interniert und Anfang Oktober 1943 von der Gestapo ins Lager Drancy gesperrt worden. Dort war er von der SS in die interne Lagerpolizei und zu "Judenaushebungen" außerhalb des Lagers eingeteilt worden, um nicht selbst nach Auschwitz deportiert zu werden. Gemeinsam mit Oscar Reich stand der SS-Mann Josef Weiszl vor Gericht. Weiszl hatte im Lager Drancy Deportationen nach Auschwitz mitorganisiert und weit über Reich rangiert. In Wien war Weiszl ein Kollege des SS-Scharführers Herbert Gerbing gewesen. Weiszl war mit besonderer Leidenschaft gegen Jüdinnen und Juden vorgegangen:
"Er war der schrecklichste Ausheber und hat immer ›Fleißaufgaben‹ gemacht; das heißt, er hat nicht nur diejenigen Juden aus der Wohnung ausgehoben, die ihm von der Zentralstelle bezeichnet wurden, sondern auch solche mitgenommen, die er unterwegs traf, oder die im gleichen Haus wohnten, wo er eine Aushebung durchzuführen hatte."
Josef Weiszl zwang auch Menschen, die aufgrund der nationalsozialistischen Bestimmungen von der Vernichtung ausgenommen waren, wie etwa jüdische Ehepartner sogenannter "Mischehen", in das "Sammellager" mitzukommen.
Der Naziverbrecher war in Drancy für seine Grausamkeiten berüchtigt gewesen. Von Prügelstrafen, von Schlägen mit seinem Gewehrkolben, von Peitschenhieben und Folterungen wußten Zeugen vor Gericht zu erzählen. Als eine Frau von ihrer bevorstehenden Deportation erfuhr, schnitt sie sich die Schlagadern auf. Weiszl verweigerte ihr ärztliche Hilfe und zwang sie in den Waggon, wo sie auf der Fahrt nach Auschwitz starb. Das Pariser Militärgericht billigte dem SS-Mann Josef Weiszl mildernde Umstände zu. Es verurteilte ihn zu lebenslänglicher Haft, die 1952 zu zwanzig Jahren Zuchthaus umgewandelt wurde, aber 1955 schon mit seiner Freilassung endete. Oscar Reich hingegen, der sich nicht auf Befehlsnotstand berufen konnte, wurde von demselben Gericht zum Tode verurteilt. Am 5. Juli 1949 wurde Oscar Reich durch ein Erschießungskommando der französischen Polizei im Fort de Montrouge hingerichtet.
Josef Weiszl konnte, wie Hans Safrian in seinem Buch Die Eichmann-Männer ausführt, im Dezember 1955 nach Wien zurückkehren, wo er laut eigener Aussage vom Staat Österreich als "Spätheimkehrer" empfangen wurde und eine "Heimkehrer-Fürsorge" erhielt. Obwohl ihn das Pariser Gericht nur wegen seiner in Frankreich verübten Verbrechen verurteilt hatte, zog die österreichische Staatsanwaltschaft den "schrecklichsten SS-Ausheber" Wiens nicht zur Verantwortung. Im Mai 1956 beschloß die Justiz, Josef Weiszl nicht weiter zu verfolgen, da er bereits im Ausland verurteilt worden war.
Keine Apologie der jüdischen "Ausheber" wird hier angestrebt. Die angeführten Beispiele postfaschistischer Rechtsprechung wollen nicht die pauschale Unschuld jüdischer Angeklagter beweisen, sondern das Ungleichgewicht im Urteil. Der Täter als Verbrecher ist eine Selbstverständlichkeit, ein Pleonasmus. Jüdische Opfer aber, die nicht dem Prototyp des "Opfers" der nationalsozialistischen Vernichtung gleichen, erregen besonderen Abscheu, werden als Skandal empfunden. Dem Opfer wird vorgeworfen, mit den totalitären Verbrechern in Tatzusammenhang geraten zu sein. Die Verantwortung für dieses Nahverhältnis wird nicht dem Täter, sondern dem Opfer angelastet, als wäre es an dieser tödlichen Konstellation vorrangig interessiert gewesen. Wilhelm Reisz und Oscar Reich lebten im Nationalsozialismus in permanenter Todesgefahr. Zu solchen Fällen schrieb der Überlebende Primo Levi:
"Der Umstand, daß einer ein Leidtragender ist, schließt seine Schuld nicht aus, und oftmals ist sie objektiv schwerwiegend, aber ich kenne kein menschliches Tribunal, dem man die Aufgabe der Bemessung der Schuld zuweisen könnte. Wäre ich gezwungen, zu Gericht zu sitzen, hinge ein Urteil von mir ab - ich spräche alle leichten Herzens frei, deren Mitschuld gering war, während der Zwang, unter dem sie handelten, sehr groß war. "
Warum gelangten nicht auch die Richter zu einem ähnlichen Urteil wie Primo Levi? Weshalb übersahen so viele der Kritiker die Zwangslage der Angeklagten? Die permanente Todesangst und der Wille zu überleben wurden bei der Beurteilung der jüdischen SS-Handlanger nicht selten ausgeblendet.
Andererseits hieß es jedoch oft, Funktionäre der jüdischen Gemeinde hätten "bloß" ihr eigenes Überleben und das ihrer Familie sichern wollen. Die Legende, die jüdischen Gemeindebediensteten hätten nur aus eigenem, egoistischem Interesse mit den Nazis verhandelt, ist, ob bewußt oder unbeabsichtigt, nichts als Denunziation, da im Gegenteil durchaus Gedanken sozialer Verantwortung der Politik der Kompromisse zugrunde lagen. Nicht der Wunsch, selbst zu überleben, war für die Gemeindeleitung entscheidend, sondern die anfängliche Hoffnung im Handel mit der SS, Juden und Jüdinnen durch Auswanderung zu retten. Später ging es darum, die totale Vernichtung aufzuhalten; und am Ende nur noch darum, die Qualen lindern zu helfen.
Jüdische "Ausheber" vom Schlage eines Wilhelm Reisz oder Oscar Reich wurden beschuldigt, mehr getan zu haben, als zum bloßen Überleben unbedingt nötig gewesen wäre; ihnen wurde vorgeworfen, sich mit den Tätern identifiziert und sich lustvoll beteiligt zu haben an den Verbrechen. Kurzum, sie wurden als Opfer negiert. Sie wurden zu "verhinderten Nazis" stilisiert, als hätten sie freiwillig und nicht unter Todesdrohung gehandelt.
Oft kommt die Rede auf die Identifikation eines Opfers mit dem Täter. Sie ist aus der psychoanalytischen Literatur bekannt, doch beruht die Identifikation eines Opfers mit dem Täter auf der unbestreitbaren und unabänderlichen Differenz zwischen Verfolger und Verfolgtem, zwischen Täter und Opfer. Ein Jude konnte im Nationalsozialismus zum Mittäter werden, immer aber blieb er "der Jude", der letztlich vogelfrei war. Wo der Täter vor allem die Lust an der Ermordung anderer verspürte, suchte das Opfer zuallererst, seinem Opferdasein zu entgehen. Die Identität des jüdischen Opfers war eine erbärmliche, todgeweihte Existenz. Kein jüdischer "Gruppenführer" konnte dieser Identität entkommen, konnte "Herrenmensch" werden. Auch wer den Nazis in Sachen Bestialität nacheifern wollte, blieb "der Jude", handelte nicht "freiwillig", sondern war in äußerster Not und unter Zwang in das Verbrechen verstrickt worden.
Wilhelm Reisz, von dessen innersten seelischen Regungen wir überhaupt nichts wissen, war kein "verhinderter Nazi". Er war nämlich nicht deshalb "Gruppenführer", weil er Nazi, also Täter, werden wollte, sondern mußte gegen seinen Willen Nazidienste leisten, weil er Opfer war.
Die Identifikation mit dem Täter gehört zur Palette des typischen Opferverhaltens. Sie bestätigt die Identität und den Status des Opfers. Der Verweis auf psychologisierende Erklärungsmuster birgt jedoch auch die Gefahr der posthumen Denunziation. Man mußte keine absonderlichen Sehnsüchte haben, um aus Angst vor der eigenen Ermordung den Nazis bei den Räumungen jüdischer Wohnungen und dem Einsammeln der Deportationsopfer zu helfen. Die Morddrohung genügte.
Die psychologischen Fragen, die in diesem Kapitel gestellt werden, beschäftigen sich nicht mit dem Verhalten der jüdischen Menschen während des Nationalsozialismus, sondern mit den Urteilen nach 1945 gegen Überlebende, die der Kollaboration angeklagt wurden. Nicht daß Opfer zu Tätern werden konnten, sondern daß Opfer nach 1945 strenger als ihre Täter verurteilt wurden und so weiterhin Opfer blieben, ist der Skandal, der hier dargestellt wird. Die nationalsozialistische Taktik war aufgegangen. Die jüdische Gemeinschaft selbst sollte die diskriminierenden Gesetze verkünden, die Absonderung und Kennzeichnung gewährleisten, die Menschen, die deportiert wurden, bis zuletzt betreuen und die "Sammellager" betreiben. Die Kultusgemeinde sollte selbst die Registrierung der Juden und Jüdinnen vollziehen und eine Kartei erstellen, um vorerst die Auswanderung, sodann die Verpflegung, aber letztlich, wie sich zu spät herausstellte, die Vernichtung zu ermöglichen. Die jüdische Gemeinde wurde zum Werkzeug der Nazis, zum "Agenten der eigenen Vernichtung".
Die jüdischen Opfer, von der nichtjüdischen Bevölkerung verfolgt oder im Stich gelassen, wurden in doppelter Hinsicht getäuscht. Sie befolgten die nationalsozialistischen Maßnahmen, welche die Kultusgemeinde verkündete, und richteten ihre Empörung sodann gegen die eigene Vertretung. Nicht die SS oder Gestapo, die jüdischen Funktionäre sollten die nationalsozialistischen Erlasse veröffentlichen. Nicht der "Judenreferent" der Gestapo, sondern der Leiter der jüdischen Gemeinde sollte im Gedächtnis der Überlebenden haftenbleiben, nicht der "SS-Scharführer", sondern der jüdische "Ordner" sollte sich ihnen einprägen. So wurde das Vertrauen der Opfer in die eigene Leitung mißbraucht und gebrochen, um jegliches Aufbegehren gegen die Verbrechen zu verhindern.
Die nationalsozialistische Taktik, das Täuschungsmanöver, war aufgegangen und wirkte nach dem Sieg über das Deutsche Reich weiter. Sogar nach 1945 wurden Opfer mit Tätern verwechselt oder willentlich vertauscht. Auch die Leitung der jüdischen Administration wurde nach 1945 mit Vorwürfen überhäuft. Selbst gegen Mitarbeiter der jüdischen Verwaltung, die überhaupt nicht im Zuge der Deportationen kooperiert hatten, sondern im Gegenteil Untergetauchten illegal geholfen hatten, wurden Anschuldigungen erhoben, mit der Gestapo zusammengearbeitet zu haben.
In der deutschen Sowjetzone wiederum wurden ehemalige Kommunisten und Sozialdemokraten, die das NS-System - zuweilen im Konzentrationslager - überlebt hatten, nach 1945 neuerlich interniert, weil verdächtig schien, daß sie nicht ermordet worden waren. Kommunistische Genossen, die aber nachweisen konnten, sich nationalsozialistischen Parteiorganisationen angeschlossen zu haben, blieben unbehelligt. Sie hatten sich offenkundig arrangiert; sie konnten also keine Spitzel, keine Verräter und keine Kapos gewesen sein und durften bald, eher noch als viele, die aufgrund ihrer Gesinnung im Lager inhaftiert gewesen waren, in die "Sozialistische Einheitspartei" der "Deutschen Demokratischen Republik" aufgenommen werden. Nicht nur die Sowjets gingen streng gegen die eigenen Leute vor. In Frankreich wurden Kollaborateure oft härter bestraft als deutsche Täter in der französischen Besatzungszone. Der Verrat in den eigenen Reihen scheint größere innere Ängste zu aktivieren als die Untat des Feindes. Mehr noch: Es scheint, wer die Vernichtung überlebt hatte, war vorerst verdächtig.
Die Überlebensschuld ist ein psychoanalytischer Begriff, der nicht reale Schuld definiert, sondern ein irrationales Schuldgefühl der Überlebenden. Die Trauer um die Toten drängt die Überlebenden zur Frage, warum gerade sie, statt der Ermordeten, am Leben blieben, und evoziert ein Schuldgefühl. Kein Überlebender kann so unschuldig scheinen wie ein getötetes Opfer, das gänzlich schuldlos war an seiner Ermordung in der Gaskammer. Vor der Ungeheuerlichkeit des Massenverbrechens verblassen etwaige individuelle Verfehlungen, und nur Gutes ließ sich über die Ermordeten sagen. Primo Levi, selbst Überlebender, etwa war überzeugt:
"Überlebt haben die Schlimmsten, und das heißt die Anpassungsfähigsten. Die Besten sind alle gestorben."
Das Schuldgefühl der Überlebenden wurde auch durch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs nach 1945, die allgemeine negative Sicht beeinflußt. Die Überlebenden reagierten unterschiedlich auf diese öffentliche Stimmung. Im Gegensatz zu Primo Levi schrieb etwa Ruth Klüger:
"Da sollen wir Überlebenden entweder zu den Besten oder zu den Schlechtesten gehören. Und die Wahrheit ist auch hier, wie üblich, konkret. Die Rolle, die so ein KZ-Aufenthalt im Leben spielt, läßt sich von keiner wackeligen psychologischen Regel ableiten, sondern ist anders für jeden, hängt ab von dem, was vorausging, von dem, was nachher kam, und auch davon, wie es für den oder die im Lager war. Für jeden war es einmalig."
In Ländern, in denen vor kurzem erst verkündet worden war, die Juden seien schlichtweg an allem schuld, durften gegen die Opfer keine Zweifel aufkommen. Deshalb wurden, durchaus in "antifaschistischer Absicht", jene, die von den Mördern in das Verbrechen verstrickt worden waren, kurzerhand als Opfer ignoriert und zu Tätern erklärt. Sie sollten das idealisierte Opferbild nicht stören.
"Ich betone, daß ich mich zu meinen Aussagen deshalb verpflichtet fühle, weil ich nicht haben will, daß durch das asoziale Verhalten weniger jüdischer Elemente alle übrigen anständigen jüdischen Österreicher disqualifiziert werden."
So ein Zeuge im Prozeß gegen Wilhelm Reisz.
Das Verhalten jener jüdischen Funktionäre und Hilfskräfte, denen ihre Verbindungen mit den Tätern zum Vorwurf gemacht werden sollten, wurde oft nicht individuell analysiert, sondern pauschal verurteilt. Die Bewertung ihres Handelns wird zuweilen angeregt diskutiert, doch was sie eigentlich taten, was der einzelne machte und wie seine Motive einzuschätzen sind, wird allzu häufig außer acht gelassen. So wird der Wahrheit nachgespürt, ohne sich um die Wirklichkeit zu kümmern. Um nicht auch der allgemeinen, übertriebenen Schuldzuweisung zu verfallen, gilt es, die psychischen Mechanismen aufzuklären, die sich nach 1945 gegen die Überlebenden richteten.
Unter dem Nationalsozialismus war den Opfern verboten zu leben. Nach der Befreiung mußten sie sich für ihr Überleben rechtfertigen. Die antisemitische Logik, wonach bloß ein toter Jude ein guter sein könnte, hat paradoxerweise das "Dritte Reich" überdauert.

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