Was unterscheidet diese Pizza von all den anderen Pizzas?
Festrede zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Hochschule für jüdische Studien
von Doron Rabinovici
Ma nischtanah ha lailah haseh mi kol ha leiloth? Worin unterscheidet diese Nacht sich von all den anderen Nächten? Seit Jahrhunderten singen jüdische Kinder diese Frage zu Pessach, und der Vater erzählt - getreu der Haggadah, der überlieferten Geschichte - vom Auszug aus Ägypten, vom Weg durch die Wüste Sinai, als hätte er alles selbst erlebt. Auch der Künstler Arthur Szyk berichtete vom pyramidalen Leid der Juden, zeichnete es nach, zeichnete seine berühmte Haggadah und malte sich den Einzug ins Gelobte Land aus, als hätte er alles selbst erlebt, ja, als erlebte er immer noch den Exodus, als wären die Pharaonen wiedergekehrt. Schlimmer noch; in seinen Augen waren die ägyptischen Herrscher nur die Vorboten jener Herrenmenschen, von denen er sich ein Bild zu machen wußte. Arthur Szyk vollendete seine Haggadah 1939 in London, wo sie 1940 erschien. Sein Lodz, dort war Szyk 1894 geboren worden, hieß nun Litzmannstadt. Aus dem Stetl war ein Ghetto unter nazistischer Kontrolle geworden. Juden aus ganz Europa sollten hierher zwangsverschickt und zusammengepfercht, dann ermordet werden. Alle Juden, selbst die Kinder, die zu Pessach fragten, worin diese Nacht sich denn von all den anderen Nächten unterscheide, waren zu Freiwild geworden. Szyk hatte sein Werk in den frühen dreißiger Jahren begonnen, hatte es von Anfang an als Angriff gegen den Nazismus und als Plädoyer für den Zionismus entworfen. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er noch deutlicher die Parallelen zwischen Gegenwart und Vergangenheit hervor gestrichen, hätte die Ägypter mit Hakenkreuzen bestückt, doch in England wurde vor allzu klaren Stellungnahmen zurückgeschreckt. So verzichtete er auf das Nazisymbol, stattete aber den ägyptischen Aufseher, der einen jüdischen Sklaven schlägt, mit einer Armbinde aus, die nicht zufällig an die SA erinnert.
Die Haggadah von Arthur Szyk ist nur eine von vielen Kostbarkeiten, die hier in Heidelberg aufbewahrt werden. Sechsundzwanzig der wertvollsten Bände der Hochschule für jüdische Studien sind nun aufgelistet, wurden in einem sogenannten Zimelienband zusammengefaßt, der rechtzeitig zu dieser fünfundzwanzigjährigen Jubiläumsfeier erschien. Vor uns liegt ein Katalog erlesener Stücke, die chronologisch geordnet sind, und wer ihn aufschlägt, findet die Pessachgeschichte des Arthur Szyk darin. Die Ausgabe, die in der Bibliothek liegt, ist 1960 veröffentlicht worden und damit ist sie das jüngste, das neueste Buch, das im Zimelienband angeführt ist. Aus dem Venedig des sechzehnten Jahrhunderts stammt das älteste Druckwerk. Es handelt sich um zwei Traktate eines Talmuds. Kaum war er veröffentlicht, ordnete Papst Julius III. die Vernichtung aller hebräischen Schriften an. Doch diese beiden Traktate überstanden das Autodafé im Jahr 1553 und ebenso die vielen Bücherverbrennungen der folgenden Jahrhunderte, ja selbst die Shoah.
Ma nischtanah ha lailah haseh mi kol ha leiloth. Worin unterscheidet diese Nacht sich von all den anderen Nächten? Zwischen dem Venezianischen Talmud und der Londoner Haggadah liegen mehr als vierhundert Jahre, doch in allen Zeiten feierten die Juden ihr Pessach und zu jeder Unzeit hieß es dann, der Jude backe sein ungesäuertes Brot, die Mazzoth mit dem Blut von Christenkindern, und zu Ostern, in den Tagen von Opferfest und Kreuzestod, entlud sich zumeist aller Haß, lasteten die Christen, die den Sohnestod als Sühnetat feierten, den Juden einen Ritualmord an, um sich auf die rassistischen Mordrituale einzustimmen. Das antisemitische Fest heißt Pogrom.
Die Haggadah von Szyk erschien, ehe die Vernichtung einsetzte. Bevor noch der Massenmord beschlossen war, vollzog sich die Diskriminierung, die im Nachhinein als Bestandteil jenes Prozesses erkannt werden kann, der im Krematorium endete. Für einen Juden wie Arthur Szyk war noch nicht klar, was jenseits der Vorstellung lag und heute mit Auschwitz verortet wird. Aber er wußte: Alle Hoffnungen auf Gleichberechtigung und auf ein menschenwürdiges Leben waren erstickt. Erkennbar war ein Zivilisationsbruch, wenn auch noch nicht in jener Totalität, in der er sich wenige Jahre später auftat, doch offenbar war, daß diese Nacht sich von all den anderen Nächten unterschied.
In der Pesachhaggadah muß der Vater die Frage: „Ma nishtana ha laila hase mi kol ha leiloth,“ beantworten und dabei auf seine Söhne, so steht es geschrieben, ungleich eingehen. Die Erzählung unterscheidet zwischen dem Weisen (Chacham), dem Schlechten (Raschah), dem Naiven (Tam) und einem Sohn, der noch nicht einmal Fragen stellen kann. (Sche ejno jodea lischol). In der Überlieferung wird nicht genauer beschrieben, wer das weise, wer das einfältige, wer das schweigsam verstockte und wer das verstockt böse Kind ist. Im Text ist nicht ausgeführt, wie der dumme Bub oder wie der schlechte zu identifizieren ist. Arthur Szyk machte die Charaktere jedoch erkennbar. Der Kluge ist bei ihm ein gelehriger, durchgeistigter Jeschiwe-Bocher, der die Schriften kennt, der Naive ist hingegen ein plumper Feistling in traditioneller Tracht und Gebetsschal, derjenige der keine Fragen stellen kann ist ein einfacher Proletarier ohne Kippa, der Böse aber ist der Prototyp des Assimilanten im schlechtesten Sinne des Wortes. Er trägt hohe Lederstiefel mit Sporen, Reithosen, raucht eine Zigarre. Er steht da wie ein eitler Geck, der nichts mehr mit dem Judentum zu tun hat und nichts mehr damit zu tun haben will.
Wenn es nach den Illustrationen von Szyk geht, ähnle ich wohl kaum dem weisen und nicht einmal dem naiven Sohn. Ich komme den schlimmeren Varianten näher. Ich wurde von der Hochschule für jüdische Studien nicht eingeladen, weil ich die religiösen Schriften, weil ich Talmud und Thora gar so gut kenne. Ich bin Jude, aber das macht mich noch lange nicht zum Experten für jüdische Studien, und selbst wenn ich wie mein rumänischer Großvater, der zum Leidwesen seiner Familie sich lieber um himmlische Verhältnisse kümmerte als um die irdische Existenz seiner Kinder, wenn ich ein volksfrommer Chassid wie er, den ich nie kennengelernt habe, geworden wäre, könnte ich hier dennoch nicht als Fachmann für jüdische Studien auftreten. Ein wissenschaftlicher Zugang, ein kritisches Textstudium waren meinem Vorfahren, diesem Ostjuden aus Moldawien, der die alten Schriften ohne Unterlaß durchgearbeitet haben mag, vollkommen fremd.
Obgleich ich kein Fachmann für jüdische Studien bin und nicht dem guten Vorbild von Arthur Szyk entspreche, glaube ich nicht, daß ich weniger jüdisch bin als ein Chassid. Ist es denn nur Kult, Folklore und Lehre, was das Jüdische ausmacht? An der Existenz des jüdischen Gottes läßt sich gewiß zweifeln, nicht aber, dies kann ich bezeugen, an jener einer jüdischen Mamme. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gibt eine jüdische Familienstruktur, einen jüdischen Humor, jüdische Lebenstraditionen und jüdische Existenzbedingungen jenseits der Religion, und mit Ben Gurion kann ich sagen, daß der Gott an den ich nicht glaube, ein jüdischer ist.
Der Begriff Assimilation wird nicht selten falsch verwendet, als könne das assimilierte Judentum von einem vermeintlich „ursprünglichen“ jenseits aller interkulturellen Einflüsse, jenseits jeglicher Assimilation klar getrennt werden. Selbst viele Mitglieder der streng orthodoxen Agudass Isroel waren im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts westlich bürgerlich gekleidet gewesen, sahen dem bösen Sohn in Szyks Darstellung ähnlich, was ihrer jüdischen Gesetzestreue keineswegs widersprach. Zugleich gab es damals ebenso atheistische, marxistische Juden, wie etwa den österreichischen Arbeiterführer Otto Bauer, die Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde blieben.
Entstammt nicht die Orthodoxie selbst einer Assimilation und unterliegt einer ständigen Wandlung, die, wie die Geschichte der rabbinischen Schulen lehrt, keineswegs abgeschlossen ist? Ist der Kaftan der Chassiden, der nicht von Abraham oder Moses herrührt, sondern von der Tracht polnischer Adeliger, nicht ein Symbol der Assimilation?
Darüber, was jüdische Kultur ist, läßt sich lange streiten. Den alten Talmud aus dem sechzehnten Jahrhundert, der hier in Heidelberg aufbewahrt ist, ließ der Christ Marco Antonio Giustiniani drucken. Ist deswegen das Venezianische Buch keine jüdische Schrift mehr? Im Zimelienband ist auch die erste vollständige deutschsprachige Ausgabe der Mischna angeführt, die 1763 erschien. Der Ansbacher Stadtkaplan Johann Jacob Rabe übersetzte die Schrift nicht bloß, er verfaßte ein Vorwort, in dem er den Irrglauben wiederholte, das fortwährende Leid der Juden sei eine Strafe für seine Ablehnung des Gottessohnes. Ist solch eine Mischna etwa nicht mehr jüdisch, weil sie von einem christlichen Geistlichen übersetzt worden ist? Kann die eine Kultur von der anderen scharf getrennt werden, als könnte ein Buch nicht mehreren zugleich zugehören? Im Ausschlußverfahren? Sind etwa die Hebräischen Melodien von Heinrich Heine nicht auch jüdische Artikulation, bloß weil sie auf Deutsch verfaßt sind?
Kennen Sie den, wie in der Sozialwissenschaft gesagt wird, Pizza-Effekt? Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatten arme sizilianische Einwanderer in New York nichts anderes zu essen als altes, trockenes Brot, das sie mit Tomatensauce bestrichen. Mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg veränderte sich der Imbiß, kneteten sie den Teig, um ihn mit Käse, Fleisch, Schinken und Gemüse zu belegen und frisch zu backen. Auf Urlaub in Italien servierten sie ihren Verwandten die neue Köstlichkeit und den Geschmack ihres Erfolgs. So entstand nicht, wie es die Legende uns immer weismachen wollte, in Neapel, sondern in Amerika jenes Gericht, das dann als echte italienische Nationalspeise zu Weltruhm gelangte.
Ist nicht das Judentum ein einziger Pizza-Effekt? Nicht nur ist das Judentum wie die Pizza erst nach dem Exodus entstanden und bloß in der Diaspora zu dem geworden, was es ist. Die eine einzig wahre Pizza gibt es ebenso wenig wie das einzig wahre Judentum. Sie wird da mit Käse serviert und dort mit Schinken, bei den einen mit Paprika und bei den anderen mit Mais, manche schwören auf Tomaten, einige auf Zwiebeln, und wer je Italiener streiten hörte, ob, was mit einer Ananas daherkommt, noch eine echt italienische Pizza genannt werden kann, erinnert sich an manche Debatte zwischen Orthodoxen, Reformern und Konservativen. Doch wie vertraut klingt erst die entscheidende Frage: Worin unterscheidet sich diese Pizza von all den anderen Pizzas?
Schmeckt zudem nicht jede Zutat anders, je nachdem, in welchem Land und in welcher Saison sie auf den Tisch kommt? Ebenso scheint ein und dasselbe jüdische Gebot in verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen Kontinenten an neuen Charakter zu gewinnen. Was einst jüdische Aufklärung war, wirkt nun zuweilen abgestanden und sogar wie eine Abkehr von der Moderne.
Erst das babylonische Exil und die römische Vertreibung bewirkten den Verlust der priesterlichen Macht und die rabbinische Revolution, ohne die es keine jüdische Orthodoxie gäbe. Bekannt ist die Geschichte von Rabbi Jochanaan ben Sakkai, der sich in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem schmuggeln ließ, ehe es fiel. Er ließ den in Flammen stehenden Tempel hinter sich, um ein Lehrhaus in Javne zu gründen. Erst nach der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums, außerhalb des Landes wurden die Opferrituale überwunden, entstand ein neues Judentum. Die Andacht konnte nicht mehr an sakrale Stätten haften bleiben und das Denken orientierte sich an Studium und Erinnerung. Die Schrift sollte zur Heimat werden. Das Primat der Räumlichkeit wurde durch jenes der Zeit ersetzt. Das klerikale Prinzip von jenem der Gelehrsamkeit abgelöst. Der Tempel von der Schule.
Diese Entwicklung ist nicht endgültig, und so kann beobachtet werden, wie sich der Charakter mancher jüdischer Strömungen im Staate Israel wiederum verändert, wie der Boden für nicht wenige wieder wichtiger wird als die Lehre, ja, wichtiger gar als das Leben. Sie möchten heimfinden zu einem Ursprung, den es so nie gab. Sie wollen uns lehren, wo Gott wohnt und zwar auf Teufel komm raus, wollen den Tempel wieder errichten, selbst wenn es gilt, dabei den Felsendom auszulöschen. Sie kehren zurück zur Fetischisierung des Opfers, rufen auf zur Ermordung des Premierministers, zum Kampf gegen Rechtsstaat und Demokratie.
In Wien, in der Leopoldsstadt, der Mazzesinsel, wie sie einst hieß, begegne ich jedem scheelen Blick, der chassidischen Juden hinterher geworfen wird, als meine er mich. Hier bin ich auf dem Sprung, um jedem schiefen Feixen aufzulauern, und ich sehe den Orthodoxen rührselig nach, behütend.
Kaum fliege ich hingegen nach Israel, verlasse das Flugzeug, radikalisiere ich mich stündlich, kommen mir manche Demonstrationen der Nationalreligiösen mit den gehäkelten Kippot und ihren zusammengeschusterten Ideologien spanischer vor als eine Corrida. Zuhause fühle ich mich in den Cafés von Haifa und Tel Aviv, in den Kabaretts und den Universitäten, wo ich ein Judentum finde, so laizistisch und modern, eine jüdische Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, wie sie außerhalb des Landes kaum zu finden ist.
Kann angesichts solcher Vielfalt, die zu jeder Zeit und an jedem Ort neue Muster bildet, überhaupt definiert werden, wie etwa Arthur Szyk vorzeichnete, was gut jüdisch und was assimiliert, wer der Chacham und wer der Rascha ist? Und klingt diese Frage, was ein Jude ist, was ihn bestimmt, denn nicht irgendwie anders in Tel Aviv als in Wien? Es ist, als wäre das Judentum ein Kaleidoskop, dessen Glassplitter und Spiegelwände bei jeder Drehung ein überraschendes Bild, ein einmaliges Mosaik entstehen lassen, eine Anordnung, die so noch nie gesehen wurde und nie mehr so gesehen werden wird.
In der Haggada steht geschrieben, der Rascha, der schlechte, sei jener Sohn, der ganz unverschämt fragt: „Was soll euch dieser Dienst?“ Euch, sagt er, nicht mir. Die Antwort, die der Vater dem Rascha, dem Schlechten zu erteilen hat, ist wohl die schwerste, ja, eine unbarmherzige. Nicht bloß, daß ihm nicht wirklich Auskunft gegeben wird, nach der Tradition soll er folgendes zu hören bekommen: „Wäre er dort gewesen, wäre er nicht befreit worden.“ Die Kinder, die zu Tisch sitzen, können sich denken, sie seien wohl damit nicht gemeint, mögen zurecht annehmen, sie, die Jüngsten, seien eben nicht ganz so böse.
In der Haggadah heißt es nicht, wäre der Junge in Ägypten gewesen, er wäre nicht befreit worden. Nein: „Wäre er DORT gewesen.“ Es gibt talmudische und rabbinische Erörterungen, weshalb der Ort nicht genauer bezeichnet ist, warum von DORT die Rede ist.
Die Worte der Pessachhaggada sind seit vielen Jahrhunderten unverändert geblieben, aber seit der Shoah klingen sie anders wider. Worin unterscheidet sich diese Nacht von all den anderen Nächten, fragen die Mädchen und Buben jüdischer Familien, und ihre Eltern, ihre Großeltern erzählen ihnen, als hätten sie alles persönlich erlebt, überlebt. Und die Auskunft, die sie erhalten, ist dieselbe für die Weisen, die Dummen, die Guten und die Schlechten. „Wären sie DORT gewesen, wären sie nicht errettet worden.“ Gegen jeden jüdischen Menschen war ein Todesurteil gesprochen worden. Für die Kleinen ist die Geschichte der Alten, wie sie dem Massenmord entrannen, wie eine Art finsteres Märchen vom Anfang einer neuen Zeit, wahr und unwirklich. Es war einmal, da lebten viele Juden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann wurden sie ermordet.
In Israel, aber auch in anderen Staaten liegt in dem Satz: „Wären sie DORT gewesen, wären sie nicht errettet worden,“ noch eine zusätzliche Bedeutung, die nicht eine Zeit und ihre Bedingungen umschreibt, sondern einen Ort, jene Länder, in denen der Massenmord geplant und durchgeführt wurde. Das DORT von dem die Rede ist, bezeichnet nichts als das DA, in dem wir uns eben befinden. Es ist beinah allzu banal, davon zu reden. Nach 1945 hatte kaum ein jüdischer Funktionär daran gezweifelt, daß in Deutschland keine jüdische Gemeinde mehr entstehen würde.
Wer im Heidelberger Zimelienband blättert, wird auf einen Talmud stoßen, der in der Hochschule aufbewahrt wird und vierhundert Jahre nach jenem in Italien gedruckt worden ist. Diese Schrift entstand im Heidelberg des Jahres 1948, angeregt von osteuropäischen Überlebenden, die es in die DP-Camps der westlichen Besatzungszonen verschlagen hatte. She’erit ha-Pleta; unter diesem Namen organisierten sich die Übriggebliebenen aus den Konzentrationslagern. In Iwrith bedeutet She’erit einfach der Überrest, doch das Wort Pleta ist ein schillernder Begriff, der Flucht, Rettung, Entronnenes, Rest und Überbleibsel gleichzeitig bedeuten kann, ja, nur wenige Israelis wissen, daß Pleta einst sogar ein Ausdruck für Bankrott war, und kaum jemand, der von einer Pleite spricht, ahnt, daß dieses Vokabel ursprünglich vom hebräischen Pleta stammt und über das Rotwelsche aus dem Jiddischen in die deutsche Sprache kam.
She’erit ha-Pleta; als die religiöse Abhandlung endlich publiziert wurde, war die Mehrheit der 180.000 jüdischen DP’s, dieser letzte Überrest der Übriggebliebenen bereits dabei, nach Israel oder in die USA auszuwandern.
Es ist nicht zu leugnen, daß Juden, die in Deutschland und Österreich wohnen, von
Juden in anderen Staaten gefragt werden, wie sie in diesen Ländern nach dem, was hier geschah, leben können. Ist es nicht merkwürdig? Es gibt wohl kaum ein anderes Volk auf der Welt, dessen Menschen sich dafür rechtfertigen müssen, wo sie arbeiten und ihre Kinder aufziehen. Bei den Juden scheint es seit 1945 irgendwie umgekehrt. Alle in der Diaspora müssen sich fragen lassen, weshalb sie noch nicht nach Israel eingewandert sind; jene in Israel versuchen wiederum ohne Unterlaß zu erläutern, wieso sie in dieser Gegend überhaupt ein Existenzrecht haben und wie sie es hier noch aushalten; diejenigen in den besetzten Gebieten müssen erst recht ausführen, was sie dort, in diesen Exklaven des Nationalismus, eigentlich verloren haben und die Juden in Europa, insbesondere in Frankreich, haben neuerdings zu erklären, was sie da noch suchen. Es ist, als gäbe es keinen Ort auf diesem Erdball, an dem ein Jude sich nicht fragen lassen muß, wie er just an dieser Stelle nach der Shoah leben könne, und womöglich verbirgt sich hinter diesem innerjüdischen Streit über den richtigen Platz unter anderem der Zweifel, wie nach dem Massenmord überhaupt ein Jude leben könne, an irgendeinem Flecken in dieser Welt.
Gleichwohl sind heute wieder Juden in Deutschland, haben sich hier angesiedelt, zumeist aus dem Osten, sahen das Land als Zwischenstation, als Provisorium, saßen auf gepackten Koffern, ehe sie allmählich sich eingestanden, daß sie bleiben würden. Was kann den Glauben an eine Zukunft eindrücklicher bezeugen, als die Gründung einer Schule? Womöglich jene einer Hochschule, einer Hochschule für jüdische Studien, weil dadurch klargestellt ist, daß hier nicht bloß Kinder aufwachsen werden, sondern daß sie in diesem Staat bleiben können, bis sie studieren, nein, bis sie letztlich forschen und lehren werden.
Für Arthur Szyk standen die Juden vor einem Scheideweg, der entweder zum Zionismus oder zur Assimilation führte. Heute aber gibt es Israel und es ist zum existentiellen und geistigen Fokus des Judentums, zum Fluchtpunkt in jeder Bedeutung dieses Wortes geworden. Paradoxerweise stärkte die Existenz des Staates das Selbstbewußtsein der Diaspora, können Juden auf der ganzen Welt furchtloser leben, wenn sie wissen, daß ein Flug nach Zion möglich ist. Wer allerdings glaubte, daß mit Israel der Antisemitismus bezwungen sein würde, muß nun erkennen, das Ressentiment läuft wenn auch vielleicht nicht wegen Israel, so zumindest gegen Israel zu neuer Form auf. Israel wurde von Beginn an seine Daseinsberechtigung streitig gemacht. Der Staat der Juden wird nicht selten als Jude unter den Staaten gehaßt und verworfen.
Welch Ironie der Geschichte. Solange der Nationalstaat als Hort der Moderne galt, wurden die Juden zu vaterlandslosen Gesellen gestempelt. Nun, da ihnen endlich gelang, in einem eigenen Land unterzuschlüpfen, ist es aufgrund jenes Verbrechens, das sie aus Europa vertrieben hat, im alten Abendland obsolet geworden, an den Nationalstaat zu glauben. Es ist, als würden wir überall, alle, ob Juden oder nicht, in Zion oder Zürich, in einer globalen, multikulturellen Diaspora, leben, und zuweilen wird so getan, als hingen wieder einmal nur die Juden einem alten verstockten Glauben nach, jenem an die nationale Selbstbestimmung. Viele, die wegen des Nazismus jegliche Form von Nationalismus ablehnen, wenden die Werte, auf denen ihre Ablehnung von Antisemitismus, von Chauvinismus und Militarismus beruht, vor allem gegen Israel, den Zionismus und die Juden. So durchläuft das Ressentiment modische Wandlungen.
Der neue Antisemitismus hat den alten nicht überwunden, vielmehr feiert der klassische Judenhaß in östlichen Staaten Europas fröhliche Urständ, und während in nicht wenigen Moscheen, ob in Saudi Arabien, Frankreich oder Malaysia, gegen die Juden gehetzt wird, während Synagogen in Europa wieder in Brand gesetzt werden - wobei, ohne das eine durch das andere zu relativieren, auch nicht unerwähnt bleiben kann, daß in den letzten Wochen muslimische Gotteshäuser angezündet wurden, wie etwa vor kurzem in dieser Gegend unweit von hier -, während in Belgien der Mitarbeiter eines Rabbiners erschossen wurde, grassiert unter nicht wenigen Deutschen und Österreichern ein sekundärer Antisemitismus, der sich gegen die Erinnerung an Auschwitz richtet und trotzig ausruft: „Was soll Euch dieser Dienst?“
Vielleicht ist der Rascha, der Schlechte, eben einfach durch diese Frage definiert. Euch, sagt er, nicht mir. Er fühlt sich für seine Mitmenschen nicht bloß nicht zuständig, sondern er zelebriert seine Ignoranz. Selbstvergessenheit und Selbstversessenheit sprechen aus seinen Worten. In Deutschland richtet sich, wer so spricht, nicht selten gegen die jüdische Erinnerung und gegen jüdische Geistesgegenwart.
Aber mit der zeitlichen Distanz verblaßt die Vergangenheit nicht, sondern tritt deutlicher denn je zu Tage, als kämen erst im Abstand die Kontraste klarer zum Vorschein. Noch leben manche derer, die dem Mord entrannen, doch wer sich in Österreich und Deutschland gegen das Vergessen wehrt, dem werden zuweilen Ressentiments unterstellt, der wird ein Ewiggestriger genannt, der gerät manchmal gar in Verdacht, die Vergangenheit zu instrumentalisieren. Es ist populär geworden, über die sogenannte Auschwitzkeule zu klagen, wenn angesichts rassistischer Vorkommnisse auf die nazistischen Verbrechen verwiesen wird.
Manche meinen zu bemerken, daß sich seit einigen Jahren in der historischen Aufarbeitung eine Perspektive durchsetzt, die von den Opfern der Vernichtung absieht, um sich dem Leid der Mitläufer und Täter zu widmen. Wir werden etwa in dunkle Kinosäle geladen, um uns in den Führerbunker, in Hitler persönlich zu versetzen, zumindest aber in jene, die ihm dienten, ihm nahe waren und ihn vergötterten. Dort, wo nichts als jener Untergang war, dem die Überlebenden ihre Rettung verdanken, dort, wo bis zu dem Sieg der Alliierten nichts als Verblendung war, heißt es, würden wir aufgeklärt. Es ist eben alles eine Frage der Sichtweise, der kinematographischen und politischen Einstellungen. Das war schon damals klar. Damals wie heute sollten die Zuschauer angesichts des Führers einen wohligen Schauer verspüren.
Wer den Zimelienband der Hochschule aufschlägt, dem offenbart sich ein anderer Blickwinkel. Wer die alten Heidelberger Quellen durchblättert, erkennt, daß hier eine Geschichte zum Vorschein kommt, die vielseitiger ist, widersprüchlicher, widerspenstiger und widerständiger als die Mythen nationaler Ausgrenzung und Vereinnahmung. Die jüdischen Studien geben uns eine Antwort, auf die Frage: „Was soll Euch dieser Dienst?“ Sie sagen, was uns die Geschichte angeht. Sie erteilen uns Lektionen der Differenzierung, der Differenz und der Universalität. Diese Lehren können aus jüdischer Erfahrung und Auseinandersetzung gezogen, auf der Hochschule für jüdische Studien angeboten werden, und zwar unter anderem deshalb, weil ein Jude zu sein, immer wieder ein Vergehen war und werden kann, in Ost und in West. Den unvergänglichen jüdischen Geschichten nicht zu lauschen, hieße sie ein zweites Mal in Deutschland auszulöschen. Die jüdischen Stimmen werden in Heidelberg zu Gehör gebracht. Sie sind der fundamentale Kontrapunkt für eine polyphone, pluralistische Gesellschaft in unserer Gegenwart, in unserer Sprache und in diesem Land. Sie bilden den Widerhall zur eintönigen Leier von der ethnischen Leitkultur.
Das Dasein zwischen den Zeiten und den Völkern stärkt die Erinnerung gegen jedes Bestreben, das Opfer mit dem Täter zu vertauschen, aber ebenso das eine Unrecht gegen das andere, den einen Totalitarismus gegen den anderen aufzurechnen. Im Gegenteil. Die mehrfache Verfolgung schärft den Blick und lehrt, keine Gleichsetzung zu dulden. Der Einzelne, das Subjekt wird verehrt, nicht obwohl, sondern bloß wenn die persönliche Verantwortung nicht privatisiert wird. Die Unterschiede zwischen den Unrechtssystemen im Auge zu behalten, ist eine politische und eine menschliche Notwendigkeit zugleich. Gewissen ist niemals alleinig eine individuelle, sondern immer auch eine gesellschaftliche Kategorie. Die Schrift und die Schriften, die in der Hochschule für jüdische Studien hier in Heidelberg, durchforscht werden, zeichnen die Vergangenheit der letzten Jahrhunderte nach und die Auseinandersetzung für kommende Jahrhunderte vor, ermöglichen eine Sicht, die selbst in der Nacht nicht alle Katzen grau werden läßt, ja, in der sich eine Nacht klarer von anderen unterscheiden läßt, und eben dadurch bieten sie Perspektiven für kommende Tage.