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Rede zum steirischen herbst 04

Doron Rabinovici

Ich muß gar nicht. Das Kind, das ich war, sagte: „Ich will nicht.“ Ich erinnere mich an meinen ersten Tag im Kindergarten. Es muß neunzehnhundertvierundsechzig gewesen sein; wenige Jahre, bevor der steirische herbst begründet wurde. Die Erzieherin, die Tante genannt werden wollte, befahl, jedes Kind müsse jetzt müssen. Alle hatten gemeinsam zur Toilette zu gehen. Wir sollten uns in Gänsereihe aufstellen. Niemand durfte fehlen. Ohne Ausnahme. An jedem Tag wurden wir zum selben Zeitpunkt aufs Klo geschickt, und an jedem dieser Tage weinte ich, verlangte ich von meiner Mutter, sie solle bestätigen, daß ich meine Notdurft schon verrichtet hatte. Aber mein Protest und ihre Intervention halfen mir nichts. Was ich, der Fremde, der in Tel Aviv geborene Bub, der Wechselbalg verschiedener Länder, überhaupt nicht verstand, war, weshalb sich die anderen Kinder fügten. Ich wußte bloß, daß jedem Kind, das nicht gehorchte, gedroht wurde: „Dann machen wir Dir die Ohren rot.“ Zum Stillhalten hatten die ostjüdischen Überlebenden ihren Sohn jedoch nicht erzogen. Nach einigen Monaten mußte meine Mutter für mich einen neuen Kindergarten finden. Ich weigerte mich, weiter hinzugehen.

Dreißig Jahre später, im Sommer neunzehnhundertvierundneunzig, fuhr ich mit Hermes Phettberg nach Kärnten. Er hatte dort einen Auftritt. Ich wollte nach Italien, und da sein Ziel auf meinem Weg lag, nahm ich ihn im Auto mit. An einer Tankstelle in der Nähe von Klagenfurt machten wir Halt. Wir gingen in den Laden, und bestellten ein paar Wurstsemmeln. Der Tankwart rief: „Sie ... Sie sind doch der ... der Phettberg!“

Hermes hatte unter den Waren einen Gegenstand entdeckt: „Das sind ja Handschellen. Kann man die kaufen?“ Und dann: „Bieten Sie die an, weil dieses Land so libertär oder so illiberal ist?“

Das ist, wie zuweilen gesagt wird, eine gute Frage, so gut, daß sie mir oft besser als jede eindeutige Antwort scheint, denn wenn etwa gemeinhin und ein wenig unscharf von der österreichischen Avantgarde in den Sechzigern die Rede ist, die international gesehen nicht so sehr eine Avantgarde war als eine Heimholung und Heimsuchung moderner Kunst, die hierzulande vertrieben oder vernichtet worden war, dann bleibt in der Schwebe, ob es Freizügigkeit oder Beklemmung war, die den Aktionismus und die Texte jener Jahre prägte, und vielleicht ist es eben diese Ambivalenz, auf der die Wirkung der künstlerischen Experimente ruhte, mit der auf das gesellschaftliche Klima der Enge und gleichzeitig auf die Freiheit verwiesen werden konnte, eine Freiheit, die gleichwohl die Gefahr einer neuen Tyrannei in sich trug.

Ich weiß nicht, ob der Angestellte an der Kassa denselben Gedanken nachhing, aber auf jeden Fall antwortete er mit einem nachdenklichen: „Wie bitte?“

„Na, wer kauft denn die Handschellen?“

„Die Lastwagenfahrer.“

„Und wozu?“

„Ja, aus Spaß.“

„Also doch aus Spaß. Schön,“ so Phettberg: „Aus libertären Gründen. Das freut mich. Ich bin nämlich Gründer des ersten Wiener Sadomasovereins, und wenn sie wollen, dann signiere ich Ihnen die Handschellen.“

Darauf der Tankwart: „Sehr gut. Dann kann ich viel mehr dafür verlangen,“ und so schrieb Phettberg auf die Verpackung: „Geprüft und für gut befunden von Hermes Phettberg.“

Liebesutensilien in einer Raststätte mögen so manchen erregen, aber sie erzürnen kaum jemanden mehr. Die Herren mit ihren Lastern und in ihren Lastern dürfen sich freuen. Der Aktionismus der Sechziger wird heutzutage als bloßer Beitrag zur Kunstgeschichte abgefeiert, um sich mit ihren Inhalten nicht auseinandersetzen zu müssen. So erleben wir das Abstellen einer Kultur durch ihr Ausstellen als Kult. Die Aktion gerinnt zum Ritual. Das Experiment verkommt zum Event, was einst Skandal war, wird zur Sensation, wobei wieder die Frage gestellt werden kann, ob das geschieht, weil dieses Land so illiberal oder so libertär ist.

Das Werk war kein Beiwerk. Es ging den Künstlern nicht bloß darum, die autonome Souveränität der Kunst zu proklamieren, sondern ihre Grenzen zu durchbrechen. Diese Auseinandersetzung war ernst gemeint, und wenn ich von meinen Erfahrungen im Wiener Kindergarten erzähle, dann nicht, um so zu tun, als gehe es bei moderner Kunst um Kindereien. Ich will nicht die Lust nach Infantilem befriedigen, sondern berichte von jenen analen Zwängen, unter denen bereits die Kleinsten litten. Ich muß zugeben, daß ich jenes berühmte Teach-In, das am siebenten Juni des Jahres neunzehnhundertachtundsechzig im Hörsaal eins des Wiener Neuen Institutsgebäudes stattfand, die Veranstaltung unter dem Titel „Kunst und Revolution“, die später auch Shit-in genannt worden ist, weil dabei öffentlich uriniert, masturbiert und geschissen wurde, unter anderem als direkten Kommentar zu meinen Kindheitserlebnissen, als Antwort auf meine Kindergartentante sehe. Mir war, als müßten all diese Männer in jenem selben Hort wie ich gewesen sein, hätten mitten in der Zeit, die Sigmund Freud als anale Phase bezeichnet, erlebt, wie ihre Bedürfnisse verneint, ihnen sogar die Kontrolle über das Innerste, die Innereien verweigert wurden. Das Happening hatte etwas von einer verspäteten Rebellion gegen jene damalige Erzieherin.

Die Künstler, darunter Oswald Wiener, Günter Brus und Otto Mühl, wollten mit ihrer Aktion die Neue Linke karikieren. Der Effekt war hingegen anders und um so größer. Erst in Form ihrer Parodie wurde die österreichische Studentenrevolte hierzulande ernst genommen. Die sinistren Appelle und Manifeste waren ungehört verhallt. Bei den Bubenstreichen, um ein Wort zu verwenden, das heuer hierzulande für Aufregung sorgte, hörte der Spaß auf. Endlich kam es zu einem Aufruhr, doch zu einem ganz anderen als von den linken Hochschulverbänden erhofft und angestrebt worden war. Der Journalist Michael Jeannee schrieb in der Zeitung Express einen Artikel, gespickt mit den Fotos der Veranstalter. Er versprach: „Beruhigt Euch, Wiener: Die Hauptakteure sind der Polizei bekannt und werden bestraft.“ Die Öffentlichkeit war empört. Von Morddrohungen gegen die Aktivisten wurde hämisch berichtet.

Mühl, Brus und Wiener verbrachten etwa zwei Monate in Untersuchungshaft. Ein Geschworenengericht verurteilte Brus zur Höchststrafe von sechs Monaten. Er mußte nach Berlin fliehen, um dem Gefängnis zu entgehen. Die Kunst durchbrach das Verschweigen und Lügen jener Jahre. Sie brachte das Unerhörte zu Gehör. Was totgeschwiegen worden war, hatte kaum jemand wirklich vergessen, und was totgeredet werden sollte, ließ sich nun nicht mehr vergessen machen. Die Rückkehr der Moderne, des Unartigen, des Entarteten, wie einst gesagt worden war, evozierte die Wiederkehr des Verdrängten. Obszön war nicht, was gezeigt wurde, sondern was ausgeblendet worden war.

Vor etwa fünfzehn Jahren wurde ich in eine niederösterreichische Mittelschule eingeladen. Hier sollte ich mit anderen über die pädagogische Aufarbeitung der Vergangenheit und über die Erziehung zur Demokratie diskutieren. Ehe das Gespräch begann, fragte ich den Veranstalter, den Schulsprecher, wo denn ein Klosett sei. Er sagte: „Die allgemeine Toilette für die Schüler ist dort drüben, aber ich sperre Ihnen die Lehrertoilette mit meinem Schlüssel auf.“

Ich wunderte mich, daß er den Schlüssel für die Lehrertoilette hatte.

Er sagte: „Als Schulsprecher darf ich auf die Lehrertoilette. Bei den Schülern gibt es kein Klopapier mehr, weil die Unterstufler immer wieder damit gespielt haben. Jetzt muß jeder seine eigene Rolle mitbringen.“ In so einer Anstalt, wie Schule zuweilen genannt wird, ist viel Raum, um über Demokratie zu plaudern, solange vom Örtchen bloß nicht die Rede ist.

Welchen Sinn hat eine Debatte, in der über alles gesprochen werden kann außer über konkrete Verhältnisse? Wie kann der Wunsch nach Selbstbestimmung wachsen, wenn sogar die Autonomie über den eigenen Körper und seine Bedürfnisse zur Disposition stehen. Die Wiener Aktionisten, rührten mit ihrer Kunst an jene Aborte, in jene Winkel, die ausgeblendet waren, aber es war hier in Graz, wo die Auseinandersetzung weitergeführt, vertieft und mit neuen Formen fortgesetzt werden konnte. Das Thema war das vom Kindergarten bis zur Universität Ausgesparte, das öffentlich und privat Ausgeschiedene.

Wer mit Kunst die Tabus der Gesellschaft zu sprengen imstande war, wurde folgerichtig als Fäkalkünstler denunziert, und wenn in der Burg ein Stück über den heimischen Nazismus dargebracht werden sollte, wurde vor dem Theater ein Wagen voller Viehmist abgeladen.

Daß die Grenzen des Zulässigen sich allerdings verschoben haben, ist ebenso wahr wie längst schon banal, und was gestern noch schockte, verlockt heute zu immer mehr Zuschauern. Die ganze Nation schaut nun im Privatsender zu, wenn einer öffentlich masturbiert und uriniert, seine eigene Pisse trinkt. Der Ekelwettbewerb steigt zum Volkssport auf. Die Selbstverletzung soll nicht mehr aufrütteln, sondern unterhalten. Peter Weibel wies darauf hin: Brus kam nach dem gelungenen Skandal damals ins Gefängnis, Schlingensief jetzt hingegen nach Bayreuth. Wer sich noch verstören läßt, ist bereits als Banause entlarvt. Während die Massenmedien allabendlich die begrenzte Regelverletzung zelebrieren, scheint die Kunst zuweilen mit Methoden des Dokumentarischen, mit Formen der wissenschaftlichen Forschung, mit Mustern des investigativen Journalismus zu spielen. Ein Rollentausch. Ich erinnere etwa an ein Werk, das Dokumentation und Skandal zugleich war, das Grazer nazistische Mahnmal „Und Ihr habt doch gesiegt“, das Hans Haake zum steirischen herbst 88 nachbauen ließ. Ich denke an unzählige andere Beispiele, an die historiographischen Gesten von Christian Boltanski, in denen er Lebensspuren aufzeichnet, an seine Personensuche, die er im Rahmen des museum in progress durchführte, aber ebenso an den Beitrag von Lisl Ponger bei der „documenta 11“ in Kassel, jene Foto-Serie „Sommer in Italien. Genua, August 2001“, mit der Ponger die Inhaftierung der VolxTheaterKarawane nach den G-8-Protesten festhielt. Die Revolte der Ungehemmtheit wirkt hingegen kaum mehr gegen die Macht der Hemmungslosigkeit und gegen die Hemmungslosigkeit der Macht. Wobei manche fragen, ob das daran liege, daß unsere Zeit so illiberal oder so neoliberal ist.

Zur Nostalgie besteht kein Grund. In kaum einer alternativen Kindergruppe oder in einem städtischen Kindergarten würden die Kleinen und ihre Eltern heutzutage sich fügen, wenn ihnen befohlen würde, wann sie ihre Notdurft zu verrichten hätten. Das bedeutet keineswegs, alle Zwänge wären abgeschafft. Sie wurden bloß ein wenig umgeräumt, gleichsam privatisiert. Wir müssen nicht mehr alle im Gleichschritt marschieren, doch um so größer ist die Angst jedes Einzelnen, hinter den Erfordernissen zurück zu bleiben. Die Ökonomie sorgt für genügend Streß.

Warum sollte es der Kultur anders ergehen? Worum es sich auch immer handelt, es handelt sich mit Filmen, mit Konzerten oder Aufführungen zuweilen recht gut. Wen freut nicht, wenn mit Kunst manchmal Erfolg zu verbuchen ist? Noch öfter wird der Erfolg mit Kunst garniert. Die Kunst fungiert als Werbeträger und Geldwaschanlage für Wirtschaft und Politik zugleich. Der Künstler als doppelter Günstling. Die früheren Nachteile der Staatsnähe werden mit jenen des Marktes verknüpft.

Im Juni zweitausendzwei trat der italienische Kulturstaatssekretär Vittorio Sgarbi aus Protest zurück. Der Kulturminister Giuliano Urbani hatte mit einem Plan für Aufsehen gesorgt. Er wollte Kulturgüter von besonderem kunsthistorischem Interesse veräußern. Bella Italia sollte versteigert werden. Das Kolosseum oder der Trevi-Brunnen könnten in ausländische Hände geraten, mahnte der Staatssekretär Sgarbi. Aber braucht es überhaupt die Warnung vor fremden Profitinteressen? Genügen nicht die Gefahren und die Begehrlichkeiten, die dem eigenen Volk entstammen?

Bisher wurden die Schätze Italiens bloß gezählt und bewertet. Nichts sonst, und vielleicht werden manche meinen, die Aufregung über ein unausgegorenes Vorhaben sei letztlich übertrieben gewesen, doch nicht wenige beschleicht das Gefühl, daß die Entwicklung den gesamten Kontinent zu erfassen begonnen hat. Sie fürchten bald nicht souveräne Bürger eines Staates zu sein, sondern bloß noch die Exponate, die Aufseher, bestenfalls noch die Besucher in einem Freilichtmuseum. Wem gehören Nationalbibliothek, Theater und Konzerthallen? Eurodisneyland ist bankrott, doch ganz Europa wird zu einem einzigen Freizeitpark, zu einem Festland in jeder Bedeutung des Wortes. Keine Autobahnraststätte, die nicht Erlebniswelt sein möchte, und Tausendsassa Hundertwasser macht es möglich.

Der Fremdenverkehr verkehrt das Eigene, bis es so eigen ist, daß es einem ganz fremd vorkommt, entstellt jede Region bis zu ihrer Kenntlichkeit. Ob in Prag, in Rom oder in Wien, ob in Tirol oder in der Toskana; das Original ist nicht originell genug. Brecht meinte einst, das Volk sei nicht tümlich. Seitdem es die Heimatpostkarte gibt, lebt sie von der Fälschung. Im Dorf hatte die Kirche das höchste Haus zu sein. Der Schornstein wurde retouchiert. Klassenkampf wurde übermalt. Der Begriff „Volksbrauch“ beschreibt all das, was ein Volk am wenigsten braucht und mit dem Leben der in einem Staat ansässigen Mehrheit zumeist kaum mehr irgend etwas zu tun hat. Da ist die Wissenschaft, die sich mit Festen und Liedern aus abgelegenen Bergdörfern beschäftigt, die irgendein Volkskundler, er ist längst tot, vor siebzig Jahren auf eine Wachswalze bannte. Bloß zwei Greise wissen die alte Weise noch mit dünner Stimme zu summen. Im Fernsehen wiederum sehen wir eine Halle zur riesenhaften Berghütte, zum Turbostadl herausgeputzt. Menschenmassen in Trachten schunkeln zu heimatlichen Elektroklängen, die Volksmusik genannt werden, wiegen sich zu Melodien, die von einer Zeit künden, in der niemand solche Töne je von sich gegeben hätte.

Allein die Quote bestimmt den Erfolg, und eine Politik, die selbst zwischen Tracht und Niedertracht, zwischen Popanz und Populismus hin und her taumelt, will sich diesem Prinzip nicht versperren, wenn nur die Zahlen stimmen und bloß die Stimmen zählen. Der einzige Kulturkampf scheint heute noch jener um den besseren Sitzplatz zu sein. Frei, ganz frei nach Sigmund Freud läßt sich ausrufen: „Welch ein Behagen in der Kultur!“

Die Kunst der reinen Selbstbespiegelung jenseits von Reflexion kann der Erhabenheit und der Repräsentation dienen. Mit Walter Benjamin läßt sich die Ästhetisierung des Politischen von einer Politisierung der Ästhetik unterscheiden. Was gefallen will, indem es gefällig wird, will nicht überzeugen, sondern überwältigen. Das kulturelle Großprojekt ist Programm, die Künste werden in die Pflicht genommen, denn jeder Tag wird zum Feiertag, jede Woche gibt es eine Rückschau auf eine hehre Zeit, die es so nie gab. Jedes Jahr wird zum Gedenkjahr, das zur Verklärung einlädt, und wirklich, war heuer nicht von höchsten Stellen zu hören, wahre Patrioten könnten keine echten Faschisten gewesen sein, und der Erhalt des Staates sei neunzehnhundertvierunddreißig eben wichtiger gewesen als jener der Demokratie? Was dürfen wir da erst für zweitausendfünf erwarten? Es jährt sich zum sechzigsten Mal die Niederlage des Nazismus und die Gründung der Zweiten Republik, zum fünfzigsten jene des Staatsvertrags und zum zehnten der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Jene, die jahrelang mit dem Ausdruck Staatskünstler gegen kritische Autoren und Autorinnen wie Elfriede Jelinek polemisierten, wollen nun alle Schriftsteller zu Staatskünstlern, zu Künstlern des Staates machen und die ganze Literatur in einen Koffer stopfen, in einen Austrokoffer. Jetzt, da offenbar den Letzten klar wurde, daß dieser Name einem Schimpfwort gleichkommt, wurde das ganze umbenannt in Landvermessung, doch das macht das Unternehmen nicht weniger vermessen. Auch viele andere Projekte sind geplant. Die Feierstunden und Festakte sind bereits festgesetzt. Die Termine sind fixiert. Es soll ein großer Spaß werden. Eine Parallelaktion, wie Musil sie sich nicht vorzustellen im Stande gewesen wäre, die neuerlich die Ungleichheiten im Geschichtsbewußtsein zwischen Deutschland und Österreich verdeutlichen wird: Denn die Deutschen sehen mit Pessimismus in die Zukunft, die Österreicher aber voller Optimismus in die Vergangenheit.

Wir liegen im Retrofieber, und nie waren die fünfziger Jahre aktueller als im Moment ihres fünfzigsten Jubiläums. Die Frage, was zu feiern und was zu gedenken sein wird, ist allerdings noch nicht ganz klar. Bei diesen Befreiungsfeiern im Doppelpack wird darüber gestritten werden können, wann der eigentliche Glücksmoment einsetzte, fünfundvierzig oder fünfundfünfzig, wobei sich die Differenzen in den Anschauungen, welch Ironie, in der unterschiedlichen Betonung ein und des selben Satzes ausdrücken lassen. Während die einen angesichts fünfundvierzig jubeln: „Österreich wurde von den Alliierten befreit,“ feiern die anderen: „Österreich wurde von den Alliierten befreit.“ Nur eben zehn Jahre später.

Nein, was muß ich denn aber auch alles gleich so schwarzsehen. Warum sollte das Gedenken nicht ganz anders ablaufen? Vielleicht wird im Zuge dieser Jubiläen zur Sprache kommen, wie die Entnazifizierung in Österreich scheiterte. Womöglich wird zu erfahren sein, wie die Rückgabe geraubten Gutes in die Länge gezogen wurde. Das sind Geschichten, die zur Republik Österreich gehören. Lange etwa, nachdem Graz die Stadt der Volkserhebung gewesen, Jahrzehnte, ehe es zur Kulturhauptstadt Europas geworden war, kurz, bevor ich in den Kindergarten kam, im Jahre neunzehnhundertdreiundsechzig, wurde hier, in dieser Stadt ein Mann vor Gericht gebracht, der in jenem Ghetto, aus dem meine Mutter, Schoschana Rabinovici, stammt, unter den Opfern als „Schlächter von Wilna“ bekannt gewesen war.

Jidn, sogt, wer schtejt bajm tojer?

Jidn, sogt, woss tut men hajnt?

Mir ducht sich, as ess schtejt do Murer,

Undser besster guter fraint.

„Juden, sagt, wer steht am Tor? Juden, sagt, was tut man heut’. Mir scheint, da steht Murer, unser bester, guter Freund.“

Diese Worte stammen aus einer Revue des Theaters im Ghetto. Von Franz Murer, dem Hauptverantwortlichen für die Ausrottung der Juden von Wilna, wußten die Opfer ein Lied zu singen. Neunzehnhundertsiebenundvierzig gab Rasmow Benjamin dem Dokumentationszentrum des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes, das von Simon Wiesenthal geleitet wurde, zu Protokoll: “Ich war Augenzeuge wie Murer eigenhändig während einer Aktion drei ältere Männer und eine Frau auf der Straße erschoß, weil sie erschöpft von dem Aussiedlungstransport zurückblieben. Ich habe auch gesehen wie Murer während einer Ausrottungsaktion bei meinem Haus eigenhändig ein kleines Kind von der Mutter fortgerissen hat und es an der Wand zerschmetterte.”

Der Freispruch im Jahr neunzehnhundertdreiundsechzig wurde im Publikum mit Akklamation und Bravo begrüßt. Vor dem Gerichtsgebäude wurden Murer Blumen überreicht. Einem amerikanischen Diplomaten, der am nächsten Tag nach dem Prozeß Bekannte in Graz besuchte und der Gastgeberin Blumen schicken wollte, wurde in drei verschiedenen Blumenhandlungen mitgeteilt, es seien keine mehr da. Alle wären am Vortag für den Prozeß aufgekauft worden. Im Espresso gegenüber dem Landesgericht wurde sodann ausgiebig gefeiert. Wissen Sie, was ein „Judenschlag“ ist? Nein? So nannten die Dorfbewohner, die Nachbarn Murers, jenes Waldstück, das die Murerfamilie verkauft hatte, um dem Verwandten, dem Murer Franz, den teuren Anwalt zahlen zu können.

Dies war nicht der einzige Prozeß gegen einen Naziverbrecher, der hierzulande in ein Tribunal gegen die Opfer umschlug. Angesichts solcher Freisprüche versagt das freie Sprechen. Wie kann das Dunkelste beleuchtet werden, ohne es seines Wesens zu berauben. Die Finsternis bloß widerzuspiegeln, ist ein zwielichtiges Schattenspiel. Nichts erhellt sich. Wie darüber reden, was einst war, und wie verdeutlichen, daß, was einmal war, immer wieder sein kann, ja, daß während ich hier spreche, Massenmörder die nächsten Massaker planen, ob im Sudan oder in Tschetschenien, und obgleich ich nicht alle Verbrechen gleichsetzen, gar gegeneinander ausspielen oder Auschwitz relativieren will, bleibt dennoch bei jedem Genozid offen, wie sich ein Bild machen läßt, wovon sich keiner ein Bild machen kann, der es nicht am eigenen Leib erfuhr? Was läßt sich noch einsehen, wo alles bloß Verbilderung ist, wenn alle Begriffe überblendet werden? Die Untat wird zum Clip. Das Attentat zum Event. Die Folter zum Foto. Die Enthauptung zum Video. Wer zusieht, wie die Täter ans Werk gehen, sieht damit zu, daß sie ans Werk gehen. Die Medien sind ihr Tatort. Die Barbarei der Schauerlichkeiten weiß die Kultur der Beschaulichkeit zu nutzen.

Selbst wer keine Seite von Adorno je gelesen hat, kennt sein Diktum über Kunst, über Lyrik nach Auschwitz, kennt gleichwohl bloß die verkürzt und entstellt wiedergegebene Formel: „... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch ...“ Dieser Text wurde oft genug - etwa bei Erich Fried - als Verdammung mißverstanden. Der ganze Satz heißt: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Der Gedanke richtet sich somit gegen die Kunst und gegen sich selbst.

Auf keinen Fall verkündet Adorno ein Verbot, vielmehr erklärt er die Ohnmacht, zeigt einen Verlust an, beklagt ihn. Mit ihm läßt sich deswegen sagen: „Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken. Mißt es sich nicht an dem Äußersten, das dem Begriff entflieht, so ist es vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.“

Mit der Kunst kann das Opfer, der Einzelne, der Vereinzelte zur Sprache kommen. In ihr darf sein Recht auf Stimme und Gehör leben. Sie ermöglichte und ermöglicht noch eine Rebellion des Individuums gegen die Auslöschung. Sie erlaubt dem Subjekt sich der Tyrannei der Kultur und der Kultur der Tyrannei zu entziehen. Sie vermag die Stimme gegen die Kriege zu sein, die im Namen der Kulturen geführt werden, um so mehr, da die Kunst heute mehr denn je aus der Kultur und ihrem Betrieb verwiesen und vertrieben wird. Sie lebt in ständiger Flucht.

Jenseits der Kultur der Macht kann die Macht der Kunst wirken. Das Versagen ist nicht die Ausnahme. Kunst an sich ist noch Nichts, was bejaht werden muß. Der Etikettenschwindel begegnet einem täglich, doch in dieser Stadt – und nicht nur in dieser Stadt – ist darauf hinzuweisen, hat erzählt zu werden, wie widerspenstig, Kunst seit Jahrzehnten zu sein weiß, wenn es darauf ankommt. Und es kommt darauf an. Von Kunst soll die Rede sein, die nicht bloße Begleitmusik sein will. Sie sorgt für Irritation. Sie ermöglicht Einsichten. Sie ist eine Offenbarung jenseits aller Gewißheit. Um Adorno ein letztes Mal zu zitieren: „Kunst ist Magie befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“

„So hat es zu sein,“ verkündet die Politik. „So war es,“ mag die Geschichte behaupten, und Erwachsene lauschen ihr gläubig wie Kinder einem Märchen. Kunst sagt bloß: „So wird es wohl gewesen sein,“ und dieser deutsche Satz läßt sich auf verschiedene Weise lesen, heißt einerseits, wie es gewesen sein könnte, doch zudem ist es eine Abrechnung mit dem, was uns noch zustoßen kann. Der Künstler ist nicht der bessere Politiker und er ist nicht der politisch Bessere, er ist auch nicht der unpolitisch Bessere oder gar der besser Unpolitische. Kunst ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Dasein, weil sie uns andere Möglichkeiten weist und eben deshalb ist sie eine unbedingte Notwendigkeit. Ihr Imperativ ist der Konjunktiv, aber ihr Konjunktiv ist ein Muß. Sie eröffnet eine Perspektive, mit Hilfe derer das Wort „Würde“ mehr als eine Möglichkeitsform des Seins bezeichnet.

War im letzten Jahr denn nicht versucht worden, das österreichische Filmfestival, das seit langem eine Garantie für Geradlinigkeit und für weitreichende Perspektive bietet, die „Diagonale“ auf Linie zu bringen, um nicht zu sagen, auf rechten Kurs? Ist es kein Wunder, daß es der Diagonale 04 dennoch gelang, richtungsweisend und sich treu zu bleiben?

Von solchen Wundern soll hier in Graz die Rede sein. Davon, wie seit mehr als einem Viertel Jahrhundert der steirische herbst immer wieder aufs Neue erblüht, wie allen Niederschlägen und allem Tiefdruck zum Trotz in diesem Land regelmäßig eine fünfte Jahreszeit anbricht.

Die Kunst verheißt kein Heil und sie verhindert nicht das Unheil. Sie spricht vom Traum, spricht wie im Traum. Sie befiehlt nicht das Müssen aller, sondern bezeugt die Wünsche, die Sehnsüchte, die Nöte des Einzelnen. Sie behandelt die Wunde, doch sie kuriert sie nicht. Sie legt den Finger darauf. Sie löscht nicht den Schmerz. Aber sie löst den Schrei. Sie bringt zur Sprache. Sie ringt um Sprache, und mag die Welt noch so liberal oder so illiberal sein, sie bleibt ein Ausweg, sie weiß ein Lied davon zu singen, sie zeichnet nach, schreibt listig, fast schon verschlagen nieder, wie es uns die Worte verschlägt.