Wie es war und wie es gewesen sein wird
Eine Fortschreibung von Geschichte und Literatur nach der Shoah
von Doron Rabinovici
Es war einmal. Märchen heben so an und machen Kinder lauschen. Es war einmal, so klingt das Signal, das alle Kleinen aufhorchen läßt, so lautet die Parole, mit der Feen, Hexen und Zauberer aufgerufen, mit der Elfen, Riesen und Drachen zum Leben erweckt werden. Vor langer, langer Zeit, in einem fernen Land, jenseits aller Ortsangaben und Jahreszahlen wird das schlechthin Gute vom Bösen par excellence bedroht, aber nie besiegt. Es war einmal, bedeutet uns, die wir erwachsen sind, daß nun erzählt wird, was so nie geschah, aber gleichzeitig wird mit diesen Worten behauptet, daß, wenn, wovon die Fabel berichtet, auch nie war, die Mär dennoch ein für allemal wahrhaftig war und wahr bleibt, jenseits aller Wirklichkeit. Ihre Aussage scheint durch die Überlieferung abgesichert, wobei für jedes Sprichwort, für jede Volksweisheit und für jede Volksweise immer schon ein Gegenstück in der Tradition existiert. Die alten Redensarten widersprechen einander seit jeher, aber wirken dennoch fort; und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Wenn Volljährige Legenden lesen, erwarten sie zumindest seit der Aufklärung keine historisch gesicherte Darstellung. Nicht wenige verlangen hingegen von der Geschichtswissenschaft, was sie in den Epen und Mythen nicht mehr finden können. Das historische Fach macht Mündige wieder hörig, macht selbst Gottlose wieder gläubig. Hier suchen sie die Offenbarung, wie es einmal war, wie es einmal wirklich war. Von der universitären Lehre wird Objektivität und rationale Distanz verlangt, wohingegen die Literatur dem Subjektiven und dem Gefühl zugeordnet bleibt. Weil die Geschichte über unumstößliche Fakten verfügt, sollen die Menschen aus ihr lernen, und zuweilen klingt diese Hoffnung, als wären die Opfer nichts als pädagogische Anschauungsobjekte aus einer Lehrmittelsammlung. Ist aber so eindeutig, was uns die Geschichte beibringt? Vor einiger Zeit versammelte sich etwa der Generalstab der israelischen Armee in Yad va Shem. Die Medien waren nicht geladen. Die Veranstaltung war nicht eines der öffentlichen Rituale des Gedenkens. Intern sollte die Bedeutung der Shoah diskutiert werden. An einem Punkt brach heftiger Streit aus. Es ging um die Frage, ob die Erinnerung an den Massenmord den israelischen Soldaten, im Kampf gegen die zweite Intifada nütze oder schade. Offiziere, die dem Friedenslager zugerechnet werden können, und das sind in Israel nicht wenige, diese linkeren Offiziere also meinten, Auschwitz sollte gedacht werden, um einen zügelnden Einfluß auf die Rekruten auszuüben und um an humanistische Traditionen anzuschließen. Die Falken im Militär vertraten hingegen die Ansicht, das Gedenken an die Ermordung der europäischen Juden sollte eher der Stärkung des israelischen Verteidigungswillens dienen.
Die politische Anschauung bestimmt die historische Sichtweise, doch trotz dieser banalen Erkenntnis werden vor Fachwerken zahlreiche Gelehrte wieder zu Kindern und spielen einander vor, es gäbe eine Forschung ohne Forscher, als verfügte der Akademiker nicht über einen Standpunkt und wäre frei von Interessen.
Wissenschaftlicher Wandel spiegelt gesellschaftlichen wider. Nicht neue Fakten, denn die alten hätten allemal gereicht, um dem Glauben an eine arische Herrenrasse abzuschwören, sondern die militärischen und politischen Siege über den Nationalsozialismus änderten die Weltsicht, etwa den Sprachgebrauch der Erblehre - oder in moderner Terminologie, der Humangenetik; änderten nicht bloß das Vokabular, sondern ebenso einige Thesen und Praktiken dieses Faches.
Mit diesen Worten soll nicht ein weiterer der zahlreichen Nachrufe auf die Aufklärung angestimmt werden. Ebenso will ich nicht behaupten, es gäbe gar keine Geschichte, weil es derer so viele gibt. Gewiß; die Historie kennt keine sprachliche Pluralform, eben weil sie bloß in der Mehrzahl existiert, und es läßt sich kein roter Faden, kein einziger unbeschadeter unter den vielen Garnen finden, an dem die eine große Erzählung aller Menschen geknüpft ist. Was da von uns zusammengebunden wird, hängt nicht an einem Zwirn, sondern ist Flickwerk, das in seinem Ganzen wahrgenommen werden kann oder als Bruchstück. Aber was gesponnen wird, ist nicht schiere Willkür, ist nicht bloß Spiegelbild unserer Vorlieben. Was die Wahrheit ist, darüber mag diskutiert werden, nicht geleugnet werden kann jedoch die Existenz der Halbwahrheit und der blanken Lüge.
Zurecht wurde nach dem Sieg über den Nationalsozialismus die scheinbare Objektivität der Wissenschaft kritisiert. Jaques Presser, Schriftsteller und Historiker, Autor des zweibändigen Standardwerkes “The Destruction of the Dutch Jews” , der Geschichte der Verfolgung der Juden in den Niederlanden, und des einzigartigen Romans “Die Nacht der Girondisten” versuchte nie zu verhehlen, von welcher Position aus er schrieb, ja schreiben mußte. Der jüdische Überlebende, der untergetaucht dem Massenmord entrann, war um Sachlichkeit bemüht, und dennoch, oder vielmehr eben deshalb, ließ er keinen Zweifel darüber, daß er nicht bloß über die Opfer berichtete, sondern in ihrem Namen sprach. Was an Presser unter anderem besticht, ist die Redlichkeit, mit der er seiner Arbeit nachging. Er spiegelte niemandem vor, seine Untersuchung mit ebensolcher Geisteskälte angehen zu können, wie manch Entomologe der Erforschung von Ungeziefern, und das war ehrlicher als die Bekundungen, es ließe sich die Vernichtung kühl betrachten, ohne durch dieses Paradigma bereits Stellung bezogen zu haben. Wer der eigenen Voreingenommenheit begegnen will, muß die Suche nach ihr aufnehmen. Auf diese Weise kann erkannt werden, welche unserer inneren Projektionen einleuchtender scheinen als alle Aufklärung.
Die Art der Geschichtsschreibung, die Presser repräsentiert, wird gerne engagiert genannt, und das ist gar nicht nett gemeint. Der Streit, ob die Historiographie distanziert oder parteilich sein müsse, wurde polemisch geführt. Eine Wissenschaft, die einen Standpunkt einnehme, werde von persönlichen Ansichten beherrscht, hieß es, und in der Tat, abschreckende Beispiele gab es genug; Akademiker, die sich den Dogmen der Macht und der Macht der Dogmen unterwarfen. Für sie ist Geschichte bloß ein Vorspiel. Neue Erkenntnisse mögen daran nichts mehr rütteln. Die Zukunft ist gewiß, bloß die Vergangenheit ändert sich laufend.
Jaques Presser bezog Stellung, um seine Position offenzulegen. Ein solches Vorgehen bedeutet ein mehr an Fairneß und Redlichkeit als das Verlangen nach Gelassenheit. Was aber ist redlich, und wem gegenüber sollte die historische Forschung es sein? Die Forderung, die Opfer gerecht zu behandeln, scheint banal, doch unklar bleibt, was das bedeutet. Während die Täter kein Anrecht auf Anonymität haben und nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden können, den Mördern in der historischen Darstellung keine Diskretion gewährt werden darf, sollen die Opfer in ihrem Leid nicht sensationslüstern zur Schau gestellt werden. Noch darf dem Opfer ein zweites Mal seine Existenzberechtigung als Individuum, sein Platz in der Geschichte verweigert werden.
Wenn von der Geschichtsschreibung Redlichkeit verlangt ist, was hieße das gegenüber den Tätern? Etwa, daß sie sich in der Darstellung wiedererkennen sollten? Fast alle der im Nürnberger Prozeß angeklagten Spitzenfunktionäre des “Dritten Reiches” präsentierten sich, wenn es um die Vernichtung der Juden ging als schiere Befehlsempfänger. Einer der Untergebenen Eichmanns, Franz Novak, sagte etwa aus:
„Ich selbst war kein ausgesprochener Judenhasser. Man muss sich aber die damalige Zeit vergegenwärtigen, mit der ungeheuren von oben geleiteteten Propaganda gegen die Juden. Sicher war ich kein Judenfreund. Mit diesen harten Maßnahmen war ich aber nicht einverstanden. Ich kann nicht einmal sagen, ob Eichmann ein ausgesprochener Judenhasser war.“
Gewiß; alles ist relativ. Was bedeutete es genau, unter den SS-Männern der Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und im Vergleich zu all diesen anderen nazistischen Massenmördern kein „ausgesprochener Judenhasser“ gewesen zu sein? Und wer wollte schon nach 1945 erzählen, welche antijüdischen Töne er noch wenige Jahre vorher gespuckt hatte?
Redlichkeit gegenüber den Tätern heißt nicht, sich dem Plädoyer der Mörder anzuschließen, sondern eher, ihr Wesen und ihr menschliches Dasein den Lesern begreifbar zu machen, ohne deshalb einer Apologie zu verfallen, die aus dem Verstehen ein Verständnis für die Untat macht? Wie das Verbrechen nicht so schildern, daß alles im Nachhinein unvermeidbar und beinah notwendig erscheint? Wer nichts als Objektivität und den kühlen Blick sucht, wiederholt die Fehler jener Art von Forschung, die einst vom Verbrechen dienstbar gemacht werden konnten. Ebenso abzulehnen, ist eine Sicht, die zur Dämonisierung neigt, und damit gleichsam sakral überhöht, was unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Menschen zufügten. Damit ist nicht gemeint, es ginge einfach darum, die Banalität zu zelebrieren, der Mörder sei ein Mensch gewesen wie alle anderen auch, der Hunde gestreichelt, Kinder getätschelt und unter Flatulenzen gelitten habe. Wer nicht wegschauen will, kann erkennen, daß sich seit einiger Zeit ein Blickwinkel durchsetzt, der von den Opfern der Vernichtung absieht, um das Augenmerk den Mitläufern und Tätern zuzuwenden. Wir werden in dunkle Kinosäle geladen, um uns in den Führerbunker, ja, in Hitler persönlich zu versetzen, zumindest aber in jene, die ihm dienten, ihm nahe waren und ihn vergötterten. Wo nichts als Verblendung war, soll Aufklärung erwachsen. Vom so genannten Untergang, dem Millionen ihre Rettung verdanken, wird erzählt, von jenem Untergang, der bereits damals als Götterdämmerung inszeniert worden war. Ein Drama im übelsten Sinne des Wortes. Selbst die Darstellung seines Suizids folgt den Regieanweisungen des Massenmörders. Das Drehbuch hält sich an die Mythen der Mitläufer. Damals wie heute können die Zuschauer angesichts des Führers einen wohligen Schauer verspüren, denn der Diktator war immer schon ein mediales Ereignis, das erst im Zwielicht ganz zur Geltung kam. Das Janusgesicht aus Zucht und Willkür, aus Unrecht als Ordnung und Ordnung im Unrecht, aus Disziplin und Pogrom, war das Erfolgsrezept des Nazismus. Der Untergang war kein geschichtlicher Zufall, sondern Konsequenz der apokalyptischen Sehnsucht, denn fest stand, daß die Entscheidung eine totale, eine endgültige sein sollte. Pech bloß, aus der Perspektive der Nazis ein Mißgeschick sozusagen, daß sie die Unterlegenen waren, daß es sie letztlich selbst traf. In seinem Buch „Kitsch und Tod“ deckte Saul Friedländer diese Ideologie der Vernichtung auf und schilderte die Faszination, die von ihr auch Jahrzehnte danach noch ausgeht.
Um den Apparat der Verfolgung entlarven zu können, bräuchte es Vorstellungskraft, aber reicht sie aus, um zu verstehen, was geschah? Nein, in jedem Buch über die nationalsozialistischen Morde wird erwähnt, daß, was sich ereignete, unvorstellbar bleibt. Dabei ist klar, daß diese Erkenntnis zur schieren Formel wird. Gefragt könnte werden, ob nicht jede historische Abhandlung mit diesem Problem konfrontiert ist. Sind die Leiden im Dreißigjährigen Krieg wissenschaftlich darstellbar? Gewiß nicht; was aber mit Auschwitz benannt wird, entzog sich allem, was voraus gedacht werden konnte, widersprach allen Vorstellungen von Rationalität. Wieso war es im “Dritten Reich” im Moment der Niederlage noch wichtig, die letzten über 70.000 im Getto Lodz verbliebenen Juden zu morden? Die Opfer konnten nicht begreifen, weshalb ihr Leben, ihre Fähigkeiten, ja letztlich nicht einmal ihre Arbeitskraft noch etwas zählten. “Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete.
(...) seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.”, schrieb Adorno.
So fraglich es ist, ob die Geschichtsschreibung darstellen kann, wie es einmal war, wie es einmal wirklich war, so zweifelhaft ist auch, ob, falls sie diese Aufgabe erfüllen könnte, sie ihre ganze Pflicht geleistet hätte. Die Historiographie bemüht sich zumeist anzugeben, was an einem bestimmten Ort zu einer gewissen Zeit geschehen ist. Doch um zu verstehen, was stattfand, muß klar sein, was eben noch nicht, nicht mehr sich ereignete, kurzum, was geschehen hätte können; welche Alternativen sich den Handelnden einst boten. Welche Hoffnungen hatten sie hegen dürfen, ehe eintraf, wovon wir nun berichten? Diese Überlegungen widersetzen sich einer Geschichtsschreibung, die vorgibt, daß nicht anderes geschehen konnte, als letztlich geschah. Die Historiographie wäre dann nichts als die Kapitulation vor der Macht des Faktischen.
Solch ein historischer Determinismus bestätigt jedes Unrecht, da es im Rückblick unausweichlich scheint. Doch einst war noch in Schwebe, was ex post sich schicksalhaft zur Geschichte fügt. Die Länder des Westens hätten etwa in den späten dreißiger Jahren den Massenmord an den deutschen und österreichischen Juden verhindern können, wenn sie anders auf die nationalsozialistischen Verfolgungen und Vertreibungen reagiert, die Flüchtlinge bereitwillig aufgenommen hätten. Die Niederlage Deutschlands hätte zudem früher als im Mai 1945 erfolgen können.
Es geht bei diesen Fragen nicht darum, zu klären, was geschehen wäre, wenn der Lauf der Dinge eine andere Richtung genommen hätte, aber die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist eben nicht bloß zu klären, wie es einmal war, sondern sehr wohl auch, wie es sein hätte können. Aus diesem Blickwinkel wollte ich meine historische Studie “Instanzen der Ohnmacht” , die Arbeit über die jüdische Administration in Wien während der nationalsozialistischen Verfolgung schreiben. Das Thema läßt mich seit Jahren nicht los. Davon leichthin zu erzählen, war mir nicht möglich. So versuchte ich der Materie mit Wissenschaftlichkeit begegnen, wobei ich wußte, daß dadurch vieles nicht zur Sprache kommt. Mir ging es aber, anders als in einem literarischen Text nicht so sehr um das noch Unbenannte, als vielmehr um konkrete Problemstellungen. Ich wollte jenseits meiner Phantasien forschen, wer die jüdischen Funktionäre gewesen waren, wollte ihre Dokumente präsentieren, sie verzeichnen und darbieten. Ich brauchte eine gesicherte Antwort auf Fragen, die seit langem mich beschäftigten, aber ebenso eine eindeutige Entgegnung für jene, die zwischen Opfern und Tätern nicht unterscheiden wollen. Ihre Thesen mußte ich so sachlich wie möglich widerlegen. Es wäre fatal gewesen, das Thema allein der eitlen Selbstdarstellung wegen zu verfehlen. Es ging um Selbstbeschränkung.
Doch diese Zurückhaltung hat ihren Preis. Die Geschichtswissenschaft verwendet, um zu schildern, was geschah, das Vokabular des Verbrechens. Unweigerlich gebrauchen wir dabei die Termini derer, die über die Untat bestimmten und sie organisierten. Mit ihren Begriffen wird bezeichnet, wie die Ausraubung, Verfolgung und Ermordung vor sich ging. Wir sprechen von Deportation, und das bedeutet wohl nichts als Zwangsverschickung, meint das Lexikon, aber mit Ethymologie kommt in diesem Fall niemand weiter. Hinter “Deportation” verbarg sich die Verschleppung in den Massenmord. Die Wörter “Umsiedlung” und “Sonderbehandlung” können jederzeit auf ihre buchstäbliche Bedeutung überprüft werden, der eigentliche Inhalt und seine geschichtliche Dimension bleiben aber verborgen. Unter “Umsiedlung” bloß eine Delogierung zu verstehen, hieße gar nichts zu begreifen. Wie soll “Sonderbehandlung” übersetzt werden? Euphemismus war Teil der Politik der Nazis. Wie Ausdrücke verstanden oder mißverstanden werden, ergibt sich aus dem Kontext. Die Kritik an der Sprache wird von der Geschichtsschreibung jedoch kaum geleistet. Die Wissenschaft unterwirft sich den Sprachregelungen, und vermag sich der Wechselbeziehung zwischen Inhalt und Form nicht zu widersetzen.
Wer die Fakten der Vernichtung ausbreiten will, dem fällt es schwer, die Perspektive der Opfer einzunehmen. Die Strukturen des Terrors nachzuzeichnen und von den Tötungskapazitäten einer Gaskammer zu sprechen, bedeutet im Sinne der Schergen zu sprechen. Im Prozeß gegen den Rechtsextremisten David Irving kam der Gutachter und Professor für Kulturwissenschaften Robert Jan van Pelt zu Wort, um gegen den Auschwitzleugner Irving auszusagen. Irving nahm den Zeugen der Gegenseite ins Kreuzverhör, doch Pelt ließ sich nicht beirren. Gewissenhaft beantwortete er alle Fragen, zerriß die Argumente Irvings in de Luft. Eva Menasse berichtete darüber. Pelt, der Experte, sagte etwa, daß die Beseitigung von zigtausenden Leichen zu einem logistischen Problem wurde. “Die Probleme waren so groß, daß man wieder zusätzlich Verbrennungsgruben einführen mußte. Doch die Krematorien, so viel kann man sagen, haben ihre Aufgabe so gut sie konnten, erfüllt.” Ja, so viel kann man sagen, und ich denke nicht daran, dies van Pelt vorwerfen zu wollen, denn seine Pflicht bestand darin, alle Mißverständnisse aufzuklären, die Irving verbreitet hatte. Eva Menasse erklärt, in distanzierter Form: “Van Pelt stützt sich auf zwei Dokumente aus Auschwitz, eines über die Verbrennungsleistungen der Öfen, ein zweites, in dem doch wahrhaftig ein Ingenieur der Bauleitung säuberlich ausgerechnet hat, wie viel Kohle pro Krematorium gebraucht wird.”
Der Historiker sowie der Chronist stehen vor derselben Problematik. Sie können bloß mit den Maßstäben der Mörder das Ausmaß der Untat verdeutlichen. Berichtet wird von seuchenhygienischen Maßnahmen, von der technischen Perfektionierung der Barbarei. Unanschaulich bleibt, daß hiermit die Logik der Mörder widergespiegelt wird. Jenseits des wissenschaftlichen Handwerks liegen die Möglichkeiten der Literatur, die gar nicht vorgibt, bloß die Fakten wiederzugeben. Sie kann sich eben deshalb einer Wahrheit annähern, die alle Wirklichkeit übertrifft, ohne sie zu verraten. “Ich lese den ersten Absatz und stelle fest: So war es, so! Poe hätte es anders erzählt, aber noch einmal: SO WAR ES.” In großen Lettern schreibt Jaques Presser diesen letzten Satz, und wir lesen: “Ich, Jaques Suasso Henriques, geboren am 24. Februar 1916, ich schwöre: Dies ist die volle Wahrheit, unverblümt, nichts ist hinzugefügt.” Und an anderer Stelle, erlebt Jaques Suasso Henriques, es ist Nacht, und ein Transport soll abgehen – , wie ein Mann sich die Augen aussticht: “Ich habe das gesehen, selbst gesehen, in vielen Nächten der Verdammnis. ICH HABE DAS GESEHEN.” Wieder in gesperrten Buchstaben.
Auf die Frage des Sprachwissenschaftlers Sem Dresden, ob sich das wirklich so ereignete, teilte ihm Presser mit, er habe ein kleines “Ödipus-Element” für erforderlich gehalten und sich deshalb “diese Wirklichkeit” ausgedacht. An Pressers Vorgehen ist gewiß nichts Verwerfliches, denn er behauptete ja in keinem Satz, Jaques Suasso Henriques zu sein. Das Buch ist als Roman, als Fiktion zu erkennen. Der Autor gibt nicht vor, die Erzählstimme zu sein. Andernfalls wäre es Etikettenschwindel und Anmaßung. Jaques Presser, der versteckt nur überlebte, dessen Frau bei einer Zugkontrolle verhaftet und im Konzentrationslager Sobibor ermordet wurde, schrieb an seinem Roman, mußte ihn schreiben, weil er mit seiner historischen Arbeit über die Vernichtung der niederländischen Juden nicht fortfahren konnte.
Jenseits der bloßen Fakten ist eine Einsicht, die sich der Wissenschaft verschließt. Wie es wirklich war und was noch geschehen hätte können, dem geht die Historie nach. Literatur kann jedoch eher als die Geschichtswissenschaft erzählen, Ruth Klüger hat darauf bereits hingewiesen, was gewesen sein könnte – oder, möchte ich hinzufügen, wie es gewesen sein wird.
Wie es gewesen sein wird; dieser deutsche Satz läßt sich auf verschiedene Weise lesen. Einerseits behaupten jene, die literarisch schreiben, nicht, sie gäben die Wirklichkeit wieder. Gewiß; die Memoiren und Berichte der Überlebenden sind voll von den Bekundungen, nichts sei hier fabuliert. Im Gegenteil; sie rufen uns auf, ihnen zuzuhören; ihnen Vertrauen zu schenken. Von ihrer größten Angst berichtete etwa Primo Levi:
“Viele Überlebende erinnern sich daran (unter anderem Simon Wiesenthal auf den letzten Seiten seines Buches Doch die Mörder leben [Droemer/Knaur, München/Zürich 1967]), was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ,Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: ,Wie war es in diesen deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht?’ [...] Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen [...] Und wissen Sie, was dann geschehen würde? [...] Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken. Wie kann auch nur ein einziger Mensch diese unwahrscheinlich schrecklichen Dinge glauben - wenn er sie nicht selbst erlebt hat?”
Wir lesen die Erinnerungen der Opfer nicht als wissenschaftliche Darstellungen. Wir sind uns bewußt, daß hier subjektiv Erlebtes präsentiert wird. Ich entsinne mich eines Besuches in Wilna. Ich begleitete meine Eltern und deren Freunde, Ida und Micha, ein Ehepaar. Meine Mutter, Schoschanna Rabinovici, und Ida stammen beide aus der Stadt, dem Jerusalem des Nordens, wie sie einst hieß.
Wie aufgeregt meine Mutter war, als wir in Litauen ankamen. Vor den Zöllnern fürchtete sie sich, wie an keiner anderen Grenze. Ich möge meine Kameras und den Computer in den Formularen angeben, sonst bekäme ich bei der Ausreise Schwierigkeiten und könnte dann die Geräte nicht wieder mitnehmen. Ich verspottete ihre Angst, erklärte, die Sowjetunion sei untergegangen. Aber ich verstand, weshalb sie die Uniformierten hier als Gefahr empfand.
Sie konnte die Straßenschilder in ihrer einstigen Stadt nicht lesen, weil nichts mehr in Polnisch, alles in Litauisch angeschrieben war. Aber sie fand wieder, wonach sie suchte und sie wollte es mir zeigen. Das Haus und das Geschäft ihres Großvaters; die Wohnung, in der sie gelebt hatte; den einzigen Baum im Getto, im Hof des Judenrates; den Weg zur Selektion.
“Wir liefen weiter und traten dabei auf Kinder und Säuglinge. Sie lagen unter unseren Füßen, und es war schwer, zwischen einem Kleiderbündel und einem Bündel mit einem Säugling zu unterscheiden. Plötzlich bemerkte ich ein Baby direkt vor meinen Füßen. Ich blieb stehen. Ich war unfähig, weiterzugehen und auf den Kopf des Kindes zu treten. Meine Mutter zog mich schnell hoch über das Baby hinweg, doch der Anblick des Babys, das unter meinen Füßen lag, sollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.”
Schoschana Rabinovici, meine Mutter, verfaßte ein Buch über ihr Überleben, über das Getto, das Konzentrationslager Kaiserwald, das Vernichtungslager Stutthof und den Todesmarsch. “Dank meiner Mutter”, heißt es. Viele Jahre ehe sie es zu schreiben begann, war es bereits fertig, so sagt sie, fertig in ihr. Es war in Kapitel geordnet gewesen. Ihre Erinnerung, ohne jedes Pathos, in zurückhaltender, doch klarer Sprache, beginnt mit dem Satz: “Am 22. Juni 1941 sah ich meinen Vater zum letzten Mal.” Teils fußt das Werk auf Aufzeichnungen, die sie aufbewahrt hatte. Auf ihre jidischen Gedichte, die sie zur Zeit der Vernichtung als Jugendliche geschrieben hatte, etwa jenes für ihren Vater, das meine Mutter im Getto schrieb. Es gibt die Gedanken und Gefühle eines literarisch ungeschulten Kindes wieder und wurde für ihr Buch in keiner Weise bearbeitet. Ihre Zeilen hätten, wenn es nach dem Willen der Mörder gegangen wäre, die Vernichtung nie überstehen dürfen; das Buch hätte nach den Vorstellungen der Nazis nie erscheinen sollen.
Viele Texte, Tagebücher und Briefe entgingen den Nationalsozialisten. Nicht wenige der Opfer versuchten damals festzuhalten, was geschah. 1947 gab Rasmow Benjamin dem Dokumentationszentrum des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes, das von Simon Wiesenthal geleitet wurde, zu Protokoll: “Ich war Augenzeuge wie Murer eigenhändig während einer Aktion drei ältere Männer und eine Frau auf der Straße erschoß, weil sie erschöpft von dem Aussiedlungstransport zurückblieben. Ich habe auch gesehen wie Murer während einer Ausrottungsaktion bei meinem Haus eigenhändig ein kleines Kind von der Mutter fortgerissen hat und es an der Wand zerschmetterte.” Macht es Sinn, sich zu überlegen, ob Rasmow Benjamin das Elend, die Ermordung eines Kleinkindes kunstfertiger hätte beschreiben können? Könnte eine neue Literatur einer jungen Generation etwa eindringlicher verdeutlichen, was jene großen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die selbst der Vernichtung entronnen sind, bereits zur Sprache brachten, was sie zum Ausdruck brachten? Was muß der Aussage von Rasmow Benjamin hinzugefügt werden? Allenfalls, daß Franz Murer, der in jenem Ghetto, aus dem meine Mutter, Schoschana Rabinovici, stammt und unter den Opfern als „Schlächter von Wilna“ bekannt gewesen war, später, im Österreich der sechziger Jahre vor Gericht trotz seiner Schuld freigesprochen wurde. Womöglich wäre zu berichten, daß am Tag der Urteilsverkündung alle Blumenhandlungen der Stadt ausverkauft waren, da der Ausgang des Prozesses und der Angeklagte gefeiert wurden. Und wissen Sie, was ein „Judenschlag“ ist? So nannten die Dorfbewohner, die Nachbarn Murers, jenes Waldstück, das die Murerfamilie verkauft hatte, um dem Verwandten, dem Murer Franz, den teuren Anwalt zahlen zu können. Gewiß, über das Fortwirken der Vergangenheit im heutigen Österreich kann ich nicht wenige Geschichten schreiben, doch wozu sollte ein Nachgeborener solche Erinnerungen wiederaufbereiten, um sie als bloßen Fundus seiner Erzählungen zu gebrauchen?
Welch bittere Ironie. Lange Zeit war kaum beachtet worden, was Menschen, die der Vernichtung entkamen, erinnerten. Erst in den letzten Jahrzehnten errangen ihre Bücher endlich breite Aufmerksamkeit. War nach dem Krieg die Auseinandersetzung mit der sogenannten “Endlösung” gemieden worden, so scheint es zuweilen gar, als hätten Erzählungen über Auschwitz nun eine Renaissance, die sich an die Stelle der Dokumente, Erinnerungen und Überlebensberichte drängen will. Die Geschichte wird hier aufgeputzt, als wäre sie für sich nicht genug.
Braucht es etwa sogenannte „außergewöhnliche Liebesgeschichten“, wobei „außergewöhnlich“ dabei ist, daß Romantik vor dem Hintergrund von Gettos und Vernichtungslagern verheißen wird? “Eine Liebe in Auschwitz” nennt etwa Thilo Thielke sein Buch, das im Spiegel Buchverlag herauskam, und auf dem Einband ist zu lesen: “Einmal verlieh die Himmelsmacht Liebe auch in der Hölle Auschwitz Flügel: die Geschichte von Cyla Cybulska und Jerzy Bielecki, die sich im KZ ineinander verliebten, dem Lager gemeinsam entflohen, sich aus den Augen verloren und voneinander glaubten, sie seien ums Leben gekommen – ein Irrtum, wie sie Jahrzehnte später durch einen Zufall erfahren...” Auf dem Umschlag sind die Photos der beiden Überlebenden vor der Abbildung der Geleise und des Lagertores zu sehen. Fünf Jahre lang habe der Redakteur Thielke recherchiert, doch er formuliert, als schreibe er an einem Roman, an einem Ärzteroman. Im Präsens sind die Sätze gehalten, wobei dadurch die Gegenwärtigkeit des Verbrechens nicht verdeutlicht wird, sondern verwischt.
Im Mittelpunkt steht die Leidenschaft zwischen der jüdischen Gefangenen und dem polnischen Häftling. Daneben verblassen alle Qualen der Folter und der Verfolgung. Wen wundert’s; es geht um die “Himmelsmacht Liebe in der Hölle Auschwitz”. Die nun in Brooklyn lebende Cyla läßt Thielke über Jerzy Bielecki sagen: “Sie habe ihn geliebt wie keinen vor ihm und auch niemanden danach”. Was Liebe angesichts der Gaskammern bedeutet und ob eine solche Bindung überhaupt an alltäglichen Beziehungen gemessen werden darf, wird in diesem Buch nicht erörtert. Cyla Cybulska und Jerzy Bielecki entkommen dem Vernichtungslager, doch später vermeinen sie voneinander, umgekommen zu sein. Jahrzehnte nachher sehen sie sich wieder. “Für die große Liebe jedoch ist es zu spät”, so Thielkes Schlußsatz. Er will uns glauben machen, daß ein Irrtum bloß dem vollendeten Glück, dem Happy End, im Wege stand. Als wären Bindungen, die im Lager entstanden, nach der Befreiung nicht oft gescheitert.
Die Mär über die vermeintlich einzig große Liebe inmitten der Lager, über die “Himmelsmacht in der Hölle Auschwitz” banalisiert das Verbrechen. Was bleibt, ist, um ein weiteres Mal mit Saul Friedländer zu sprechen, Kitsch und Tod als Widerspiegelung des Nazismus. Aus all dem Morden, so die verlogene Botschaft, erwachse ein vermeintliches Heil, ein Glück im Unglück, das bloß aufgrund der Nachkriegswirren sich nicht zum Guten fügte. Die Wahrheit ist weniger befriedigend. Die Liebe triumphierte nicht über die Vernichtung; eher im Gegenteil, die soziale Ermordung ging der körperlichen voraus. Was den Juden angetan wurde, rührte zuallererst an ihr Empfinden und Zutrauen.
Soll aus Auschwitz ein romantischer Ort werden, der dem Rendezvous diente? Taugen die Geschichten von den Sonderzügen und den Stationsrampen zur leichten Bahnhofsliteratur? Gewiß; die Qual der Opfer könnte sich zu Buche schlagen. In manchen Verlagen mag die Hoffnung umgehen, mit dieser Mischung aus Leidenschaft und Lagerleid größeren Absatz zu erzielen. Beunruhigender als das Erscheinen schlechter Bücher ist die Marktpolitik, die sich dahinter offenbart. Das zynische Kalkül, mit den Qualen der Ermordeten Profit erzielen zu wollen.
Weshalb erlebt die Mischung, die Vermischung aus Fakten und Fiktion just dann eine Konjunktur, wenn die Überlebenden allmählich wegsterben? Vielleicht, weil sich nun die meisten der Opfer kaum mehr gegen einen solchen Abklatsch wehren können?
Je ferner die Vergangenheit zurückliegt, um so größer wird die Angst, sie könnte für das breite Publikum zu blaß oder zu graulich wirken, und eben darum wird das Dunkel des Verbrechens mit Sentimentalität und Kolportage eingefärbt und aufgehellt. Da der Massenmord abseits unserer Vorstellungen liegt, wird übermalt und retouchiert, was geschah. Eben die Tendenz, das Gedenken an die Vernichtung zu verkitschen, beweist, wie sehr die Erinnerung noch verstört. Vielleicht ist das Kalkül noch zynischer. Dient die Shoah bloß als dramatisch düstere Todeskulisse, in der die Liebe besser aufleuchten kann? Geht es alleinig darum, bekömmliche Liebesromane zu verkaufen? Oder soll der Hintergrund der Vernichtung, den abgeschmackten Kitsch im Zentrum gar legitimieren helfen und die Trivialität, die in einer anderen Szenerie bloß noch lächerlich wirkt, gegen kritische Einwände schützen?
Der historische Tatort wird zuweilen zur bloßen Location. Dabei geht es nicht nur um die Darstellung der Vergangenheit, sondern vielmehr um die Fetischisierung des Grauens in der Geschichte und in der Gegenwart. Die Untat wird zum Clip. Das Attentat zum Event. Die Folter zum Foto. Die Enthauptung zum Video, und wer zusieht, wie die Täter ans Werk gehen, sieht damit zu, daß sie ans Werk gehen. Die Medien sind ihr Tatort. Die Barbarei der Schauerlichkeiten weiß die Kultur der Beschaulichkeit zu nutzen.
Auch wer keine Seite von Adorno je gelesen hat, kennt sein Diktum über Kunst, über Lyrik nach Auschwitz, kennt gleichwohl bloß die verkürzt und entstellt wiedergegebene Formel: „... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch ...“ Der ganzeSatz heißt: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ So wendet sich das Verdikt gegen die Kunst und gegen sich selbst, aber auf keinen Fall verkündet der Satz ein Verbot, vielmehr erklärt er ein Dilemma. Alle Teile der Gesellschaft und auch alle Formen der Kunst hatten nach Auschwitz ihre Unschuld verloren.
Auf keinen Fall verkündet Adorno ein Verbot, vielmehr erklärt er die Ohnmacht, zeigt einen Verlust an, beklagt ihn. Mit ihm läßt sich deswegen sagen: „Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken. Mißt es sich nicht an dem Äußersten, das dem Begriff entflieht, so ist es vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.“
Mit der Kunst kann das Opfer, der Einzelne, der Vereinzelte zur Sprache kommen. In ihr darf sein Recht auf Stimme und Gehör leben. Sie ermöglichte und ermöglicht noch eine Rebellion des Individuums gegen die Auslöschung. Sie erlaubt dem Subjekt sich der Tyrannei der Kultur und der Kultur der Tyrannei zu entziehen. Sie vermag die Stimme gegen die Kriege zu sein, die im Namen der Kulturen geführt werden, um so mehr, da die Kunst heute mehr denn je aus der Kultur und ihrem Betrieb verwiesen und vertrieben wird. Sie lebt in ständiger Flucht.
Jenseits der Kultur der Macht kann die Macht der Kunst wirken. Das Versagen ist nicht die Ausnahme. Kunst an sich ist noch Nichts, was bejaht werden muß. Der Etikettenschwindel begegnet einem täglich. Die Literatur bietet Offenbarung jenseits aller Gewißheit. Um Adorno ein letztes Mal zu zitieren: „Kunst ist Magie befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“
Literatur kann von der Geschichte erzählen, indem sie erzählt, was von ihr nicht mehr erzählt werden kann. Die Möglichkeiten narrativer Literatur sind nicht eingeschränkt, sondern eher umgelenkt, vielleicht sogar erweitert.
Leo Perutz etwa schrieb mit seinem Roman “Nachts unter der steinernen Brücke” ein Mosaik, ein Puzzle des Gedächtnisses, das nicht von der Shoah handelt, sonder über die Vernichtung spricht, indem es gleichsam über sie hinweg spricht. Von einer Geschichte zur anderen verdichtet sich das Bild. Die Legenden aus der mittelalterlichen Prager Judenstadt erzählt der Hauslehrer und Nachfahre in jenem Moment, da der baufällige Bezirk abgerissen wird, und sein Schüler schreibt sie nieder, als die Juden in Prag, ja in Europa der Vergangenheit angehören, ermordet waren und die Gemeinden mit all ihren Überlieferungen und Traditionen vernichtet sind. Dies wissend lesen wir das Buch. Während die Juden vernichtet wurden, webte Perutz an ihren Sagen aus dem mittelalterlichen Prag.
Perutz nutzte alle Quellen, um die Erinnerung aufzurufen, obgleich er nicht vom Nazismus schrieb. Er siedelte das Werk vor der Vernichtung an. Im Wissen um alles, was nachher geschah, ist der Text geschrieben und wird er gelesen. Die Geschichte vom mittelalterlichen Prag wird durch die Vergangenheit nicht verstellt und die Vergangenheit durch die Geschichte nicht beschönigt. Im Gegenteil; die Auslassungen machen deutlicher, was sich ereignete.
Auch der Band „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“ von Imre Kertesz ist kein Buch über die nazistische Vergangenheit. Es spielt in der unmittelbaren Gegenwart. Nein, tobt es in diesem Buch, antwortet B. auf die harmlose Frage eines Bekannten, ob er Kinder habe. „Nein“, so verweigerte er sich dem Wunsch seiner Frau, die längst nicht mehr seine Frau ist, Kinder zu zeugen. Der Text bäumt sich auf, wendet und windet sich zu einem Nekrolog für ein Nicht Geborenes, zu einem Abgesang aus schwebenden und schwankenden Tönen, zu einer Klanglandschaft der Ambivalenz, wie sie bloß Imre Kertesz in Worten hörbar machen kann, zu einem Kaddisch, zum Totengebet eines Menschen, der preisgibt, daß er sich nicht erinnern will, obgleich er sich erinnern will, und der sich erinnert, ob er will oder nicht, weil er nicht vergessen kann, und wie er sagt, „keine Angst, Kinder, nicht aus irgendeiner ,moralischen Verpflichtung‘“. Er betrachtet das Dasein eines Kindes als Möglichkeit seines Seins, um das Nicht-Sein dieses Kindes als radikale und notwendige Liquidierung seines Seins zu betrachten, denn allein so habe alles, was ihm geschah - ohne daß er wohl wußte, wie ihm geschah - alles, was er getan habe und ihm angetan worden sei, einen Sinn. Dieser innere Monolog richtet sich gegen sich selbst, richtet sich selbst, ist ein Kaddisch gegen den Kaddisch, ist keine Lobpreisung des Allmächtigen mehr, sondern das Einbekenntnis einer Ohnmacht. Diese Ausführungen sind, wie Jean Améry erklärte, die Bewältigungsversuche eines Überwältigten.
Literatur bietet zumindest die Chance neuer Fortschreibungen. Sie versucht zuweilen dem Entsetzen mit Humor zu begegnen, und zwar nicht um es durch brüllendes Gelächter zu übertönen, sondern, im Gegenteil, damit das Lachen einem im Halse stecken bleibe. Der Witz dient der Erkenntnis, wenn er uns das Denken nicht erspart, aber erleichtert, wenn er sich nicht über die Opfer lächerlich macht, sondern uns mit ihnen fühlen hilft.
Was damals geschah, läßt sich nicht in mir geläufigen Kategorien fassen. Vor wenigen Jahren befragte ich einen alten Juden in Wien zur Geschichte seiner Befreiung aus Auschwitz. Ein kleiner, energischer Mann mit Glatze, der recht unsentimental von der Zeit des Massenmords sprach. . Die Szene beruht auf einer wahren Begebenheit, einem Interview, das ich vor Jahren in Wien führte. Die Geschichte jenes Überlebenden läßt mich bis heute nicht los. Er war bloß seiner Mutter wegen im nationalsozialistischen Wien geblieben. In Theresienstadt verliebte er sich in eine Frau und heiratete sie, obgleich jüdische Hochzeiten längst verboten waren. Als er nach Auschwitz deportiert werden sollte, bestand sie darauf, ebenfalls verschleppt zu werden. Beide überlebten wie durch ein Wunder, fanden einander in Wien wieder und nun ließen sie sich gesetzlich trauen.
Als ich von diesem zweifach unwahrscheinlichen Glück und dieser Liebe hörte, wagte ich erst nichts zu sagen, dann aber fragte ich schüchtern, weshalb ich in seiner Wohnung kein Zeichen seiner Frau sah. War sie gestorben? Der Alte meinte bloß: „Naja, wir haben uns dreiundfünfzig scheiden lassen.“ Wieso denn, entfuhr es mir, den eben noch romantische Gefühle umwogt hatten, worauf der Greis sagte: „Sie war jähzornig. Hat immer nur geschrien. Es war schwer auszuhalten.“
„Und vorher?“
„Aber ja, auch vorher schon“, versicherte mir der Überlebende mit schelmischen Lächeln: „Ja, im Lager bereits. Aber damals glaubten wir noch beide, es liegt an Hitler!“
Ich habe diese Begebenheit, diese Groteske in meinen Roman „Ohnehin“ eingebaut. Ich erzähle damit nichts von Auschwitz, doch vielleicht erzähle ich auf diese Weise unter anderem, was ich nicht von Auschwitz erzählen kann.
Zuweilen, wenn ich aus meinen Büchern lese und nachher für eine Diskussion bereitstehe, will jemand aus dem Publikum wissen, weshalb ich, der Nachgeborene, Geschichten schreibe, die in der Vergangenheit angesiedelt sind. Andere sind erstaunt, daß ich, der ich doch so jung sei, ja, in diesen Momenten scheine ich zum Pubertanten, zum Unterstufler zu mutieren, mich noch mit den Themen des Krieges auseinandersetze. Diese Fragen werden zumeist freundlich gestellt, nicht selten sind sie von redlichem Interesse motiviert, aber manchmal scheint ein Ressentiment durch, und die Beschäftigung mit der Shoah schlechthin steht mittlerweile unter einem Generalverdacht, einem Argwohn, der in den vergangenen Jahren an Kraft gewann. Werde ich nach einer Lesung gebeten zu erklären, weshalb mein Roman in der nationalsozialistischen Vergangenheit spiele, weise ich darauf hin, daß er doch gar nicht in diese Zeit gesetzt ist. Nie in meinem Leben verfaßte ich eine einzige Erzählung, die in einem Lager oder einem Getto angesiedelt ist, und selbst wenn ich von den Verhältnissen in den litauischen Gettos erzählen wollte, das Buch meiner Mutter kopierte, meine Protagonisten durch eine Selektion triebe, sie ermorden ließe, von den Strategien des Entrinnens phantasierte, zu schildern versuchte, was sie empfänden, würde ich nicht die Vergangenheit aufarbeiten, weil sie sich ja nicht mehr aufarbeiten läßt. Es geht allemal bloß um die Gegenwart. Was erörtert, aufgedeckt und verhandelt, was verdrängt, verleugnet und ausgeblendet wird, bestimmen allein die aktuellen Machtverhältnisse, nie die früheren.
Ich schreibe vom Umgang mit der Vertreibung, der Verfolgung und der Vernichtung. Ich spreche hier vom Umgang mit diesen Fragen, und meine nicht bloß die historische Auseinandersetzung mit der Shoah, sondern ebenso die aktuelle, die politische Handhabung von Flucht und Genozid in der Gegenwart. Dabei geht es mir keineswegs um eine Gleichsetzung dessen, was einst geschah, und was heute sich ereignet. Vielmehr will ich sehen, welche Parallelen sich uns aufdrängen und warum. Ich schaue mir an, was Menschen nun geschieht, im Lichte, nein, vielmehr im Schatten des Vergangenen, und ich rätsle, wie es gewesen sein wird. Woran ich arbeite, woran ich mitarbeite, ist die Fortschreibung von Geschichte und Geschichten. Ich schreibe fort in jeder Bedeutung des Wortes, will nämlich manches weiterschreiben und anderes weg. Selbst diese Vorlesung ist eine Fortschreibung vieler Erzählungen und eines Textes, an dem ich lange schon sitze und an dem ich bald wieder feilen werde. In ihm geht es um nichts als um den Unterschied zwischen der Frage, wie es war, und jener, wie es gewesen sein wird.
Literatur kann verdeutlichen, wie es gewesen sein wird, und das bedeutet nicht bloß, wie es wohl geschehen sein könnte, sondern heißt weiters, eine Kalkulation, ein Zählen im Erzählen, eine Abrechnung mit dem, was uns noch zustoßen kann. Es heißt, fortzuschreiben, wie es überwunden und einst eingesehen werden wird. Über die Bedingungen im England vor mehreren Jahrhunderten wissen die meisten Menschen nicht viel, aber das Treffen zwischen Mary Stuart und Königin Elisabeth, das wissenschaftlich betrachtet sich nie ereignete, kennt jeder Gymnasiast.
Ich erinnere mich an 1984 von George Orwell, entsinne mich, daß ich bereits in den Siebzigern daran denken mußte und mit anderen darüber sprach, wie es sein würde, jenes Jahr zu erleben, daß zum Synonym des Totalitarismus geworden war. Ich verbinde mit der Zahl keine historische Assoziation mehr, sie ist für mich wiederum allein zum Titel eines Buches geworden.
„So hat es zu sein,“ verkündet die Politik. „So war es,“ mag die Geschichte behaupten, die Literatur sagt bloß: „So wird es wohl gewesen sein.“ Wie es gewesen sein wird, das ist es, was mich antreibt. Das literarische Schreiben vermag zur Sprache zu bringen, was noch ungesagt ist, vermag dem Unsagbaren und dem Unerhörten ein Wort zu verleihen.
Ich muß an einen Ausspruch denken, der doch, wenn ich nicht irre, von August Wilhelm von Schlegel stammt. Sagte Schlegel nicht, der Historiker sei ein Prophet, der in die Vergangenheit schaut? Erinnern die Worte nicht an Walter Benjamin? Ist dieser Beruf nicht in der Tat dazu verdammt, mit rücklings verrenktem Kopf voranzuschreiten? Aber war es nicht Heinrich Heine, der Schlegel widersprach und meinte, mit mehr Fug und Recht könne der Dichter ein Geschichtsschreiber genannt werden, der in die Zukunft schaut? Stimmte nicht Georg Büchner darin überein und meinte, der dramatische Dichter sei ein Geschichtsschreiber, der Geschichte ein zweites Mal zum Leben erwecken lasse, indem er aus Charakteristiken Charaktere schaffe? Ja, so wird es wohl gewesen sein...
Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung versucht in ihren Studien über den Massenmord das Thema abzuhandeln. Bis nichts erforscht ist, was der bisherigen Auffassung widerspricht, und solange keine neue Interpretation die alten Ergebnisse in Zweifel zieht, mag das wissenschaftliche Buch seinen Zweck erfüllen. Der Historiker will ein Standardwerk schaffen. Kein Dichter will hingegen schreiben, was nichts als Standard wäre. Die universitäre Studie wird, so gut sie ist, in absehbarer Zeit überholt sein. Ein künstlerischer Text mag hingegen nach vielen Jahren erst an Kraft gewinnen. Literatur ist ein Prozeß, und sie ist ein Zeugnis des Scheiterns im Umgang mit der Vernichtung. Sie lotet aus, wo das Wort versagt, und auf diese Weise ist sie in jeder Bedeutung dieses Begriffes ein stetes Versprechen, eine unentwegte Fortschreibung, wie es gewesen sein wird.