:: Bücher / Credo und Credit - Leseprobe

Hundertundsiebzehn

Oder Eine kurze Anleitung zum jüdischen Witz

Kennen Sie den? Auf einer Zugreise setzt sich ein Jude zu einer Gruppe orthodoxer Talmudschüler. Plötzlich sagt einer von ihnen: »Fünfundzwanzig«, und alle lachen. Der nächste ruft: »Siebenundvierzig«, und die Chassiden prusten, ja brüllen vor Gelächter. Ein anderer sagt: »Dreihundertachtzig«, und wiederum johlen alle, bloß der Reisende versteht nicht, was geschieht; er fragt: »Was soll das? Seid ihr vollkommen meschugge geworden?« Da erklärt ihm sein Nachbar: »Wir erzählen einander Witze. Aber da wir bereits alle kennen, gelangt niemand bis zum Ende, weil die anderen sagen: ›Den kenn ich schon, aber in einer besseren Variante.‹ Also haben wir beschlossen, die Witze durchzunumerieren und bloß die Zahlen aufzurufen.« - »Was für eine großartige Idee«, meint der Neuling: »Gebt mir die Liste.« Sie machen weiter. »Dreiundfünfzig«, sagt einer, und wieder Gelächter. »Zwanzig«, neuerlich Lachen. Die Reihe kommt an den Neuen. Er ruft: »Hundertundsiebzehn«, aber keiner lacht. Alles bleibt stumm. »Hundertsiebzehn! Hundertsiebzehn, das ist doch ein wunderbarer Witz.« - »Gewiß«, meint sein Nachbar: »Ein wunderbarer Witz, aber ... erzählen muß man ihn können.«
Dieser alte jüdische Witz offenbart eine tiefe Weisheit, denn jede Pointe hängt davon ab, wer sie wie erzählt; und wem; und wann. Wird diese Wahrheit nicht beachtet, kann unversehens der jüdische Witz zum Judenwitz geraten, zur antisemitischen Zote. Jüdischer Humor ist das Lachen über sich selbst und nicht der Spott über die anderen. Im Gegenteil, der Witz ist der Widerstand gegen den Hohn, weil er der Erniedrigung zuvorkommt, indem er dem Zynismus mit Ironie begegnet. Kein Stammtischgegröle gegen das Fremde soll aufgerufen werden. Der jüdische Humor ist keine Mordshetz.
[...] S. 61

Credo und Credit

Oder Einige Überlegungen zum Antisemitismus

Am Anfang war der Jude und der Jude war bei Gott, war bei Gott nicht bereit, an die Passion Christi zu glauben. Und der Jude war zum Mörder Gottes gestempelt worden, den diejenigen verehrten, in deren Gemeinde er zu leben verdammt war. Die Christen hatte er mit Credo und Credit zu versorgen. Er sollte dem Abendlande Wahrheit und Währung verleihen. Er war der Gläubiger und der Gläubigere im Sinne des alten Bundes. Er hütete nicht bloß das Geld, sondern ebenso die Gebote des einen, allmächtigen Gottes. Das Volk des Buches mußte jenes der Buchhaltung sein. Der Jude sollte auf das ursprünglich Verbuchte verweisen und sagten: »Es steht geschrieben!« Er erinnerte die Christen an die Rückstände aus den frühesten Schriftrollen und an die Verbindlichkeiten jüngster Abmachungen. Er gemahnte an Schuld und Schulden, an den Ursprung Gottes und des Geldes. Der Okzident brauchte den Juden.
Die Sprache, die deutsche, der ich verschrieben bin, legt mir eine Perspektive nahe, in der die ökonomischen und religiösen Rollen des Juden zur Deckung kommen. Ich möchte vorschlagen, die Wörter auszuhorchen. Sie bieten uns eine Möglichkeit, die weniger als eine Hypothese ist und vielleicht nicht mehr als ein Wortspiel. Hinter den Ausdrücken verbirgt sich ein Weltbild, das zwischen wirtschaftlicher und geistiger Ordnung nicht unterscheiden kann, aber zugleich diese mangelnde Differenzierung just dem Juden vorwirft und behauptet, jener schlage aus der Moral bloß Profit und mache den Profit zu seiner einzigen Moral.
[...] S. 67

 

> Pressestimmen