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Ohnehin. Roman; Suhrkamp (2004)

Paul Michael Lützeler, Die Zeit

Stefan Sandtner, Facharzt für Neurologie, kämpft gegen die Krankheiten der Erinnerung, aber er kennt kein Mittel, um eine Frau zu vergessen, die noch unlängst mehr als eine Kollegin für ihn war. Er nimmt sich eine Auszeit vom Klinikdienst. Nur einen Patienten, den er seit seinen Kindertagen kennt, behandelt er weiter: den alten Herbert Kerber, der sich nichts länger als 15 Minuten merken kann. Niemanden erkennt er wieder; nur die Kriegsjahre, über die er zuvor nie sprach, sind in aller Schärfe präsent, ja, er glaubt sich mitten in ihnen.

Ob allerdings das Heraufholen der Erinnerungen überhaupt erstrebenswert ist, darüber geraten die erwachsenen Kinder des Alten in Streit. Ist nicht das Vergessen eine Gnade? fragt sich der Sohn, zumal so am heilen Bild des Vaters keine Risse entstehen. Die Tochter hingegen veranstaltet mit dem Kranken Tribunale, die zu keinem Ende kommen, weil ihm vorher immer wieder alles entfällt.

Wenn er nicht bei seinem Patienten ist, treibt es Sandtner auf den Wiener Naschmarkt. Hier, inmitten heimischer und orientalischer Köstlichkeiten, trifft er alte Freunde und macht neue Bekanntschaften. An den bunten Ständen läßt er sich ihre Geschichten erzählen. Hier lernt er Flora Dema kennen, eine junge Filmemacherin aus Ex-Jugoslawien, die ihn in ihren Bann zieht. Mit ihr will Sandtner alle Probleme vergessen, ohne dabei zu merken, in welchen Nöten sie sich befindet.

„Es gibt wenige Romane, in denen die Dialektik von Vergessen und Erinnern, Verschweigen und Reden, Verdrängen und Bekennen so komplex geschildert wird wie in Rabinovicis Roman. Es werden Parallelen zwischen NS-Morden und den Bürgerkriegsverbrechen der Gegenwart gezogen. (...)Die Geschichte von Stefan und Flora ist umgeben mit einem Kranz von Nebenerzählungen. Die Berichte über diese anderen Schicksale variieren das Grundthema des Romans: den Krieg der Kulturen. Gekonnt sind die satirischen Einlagen, etwa über ein Symposium zum Thema Antisemitismus in Osteuropa. Da werden Philosemitismus und politische Korrektheit karikiert. Gelungen ist auch die Kritik an der Spaßgesellschaft der neunziger Jahre, zu deren unschuldigen Teilnehmern Held Sandtner zu zählen ist. Der Autor Rabinovici ist auch Historiker, und zuweilen schweift er in seinem Roman ins Kulturgeschichtliche ab, etwa wenn er über den Wiener Naschmarkt, den Nabel dieser Romanwelt, erzählt. Die nicht selten musilesken Diskussionen, die oft canettihaften Wortwechsel und die zuweilen brochische Dichte verleihen dem Buch das spezifische Gewicht großer österreichischer Literatur.“

 

Walter Grünzweig, Standard

„Mit Ohnehin ist die Literatur der Second Generation durch einen Wien-Roman der ganz besonderen Art bereichert worden. Wie bereits in der Suche nach M., aber weniger allegorisch, taucht die Vergangenheit in der Gegenwart auf - unauffällig zunächst, verzerrt, aber unausweichlich. Die dünne Schicht der in Österreich ersehnten "Normalität" ist schnell dahin. Wir beginnen zu erkennen, auf wie komplexe Weise Geschichte sich fiktional manifestiert und forterzählt (werden) wird. Doron Rabinovici hat ein wichtiges Buch geschrieben.“

 

Martin A. Hainz, Wespennest

Rabinovicis Roman schreibt solcherart gegen die Versteinerung – weil wir noch immer in einem Zeitalter leben, das nicht aufgeklärt, sondern allenfalls eines der Aufklärung ist.

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