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Ohnehin

Roman. Suhrkamp 2004.

In Stefan wuchs ein Verdacht: „Verzeihung, Herr Doktor Kerber. Ich bin mit einemmal ein wenig durcheinander. Könnten sie mir sagen, welches Jahr wir haben?

Fünfundvierzig, natürlich. Was meinen Sie?

Und wie alt, Herr Doktor, sind Sie?

Nun, ich bin siebenundzwanzig.

Der Neurologe griff in seine Tasche und holte einen kleinen Handspiegel hervor. „Herr Untersturmführer, was sehen Sie? Ist das etwa ein Mittzwanziger?

Kerber erbleichte, fuhr sich ans Herz.

Um Gottes willen. Was ist das?“ Er sprang hoch, wich vor seinem Ebenbild zurück und schrie: „Was ist geschehen? Wer ist das? Was machen Sie denn da? Ich bin Herbert Kerber, hören Sie, Untersturmführer Herbert Kerber. Ich weiß, wer ich bin, ja, Untersturmführer Kerber, ich bin Doktor der Medizin, ich Doktor Herbert Kerber.“ Während er Luft holte, ermattete er und flüsterte ein wenig verloren: „Was ist denn los?

„Nichts“, sagte Stefan, packte den Spiegel ein. „Ein kleiner Streich. Schauen Sie doch hier“, er zeigte aus dem Fenster. „Kommen sie her. Ist es nicht ein prachtvoller Tag. Hören Sie die Kinder spielen?

Kerber beruhigte sich. Stefan reichte ihm ein Glas Wasser, und schlich aus dem Zimmer, wartete einige Minuten, dann trat er wieder ein.

Herr Doktor Kerber?

Kerber drehte sich vom Fenster weg, wandte sich ihm zu. Er strahlte: „Ja? Bitte? Kennen wir uns?

Guten Tag, Herr Doktor Kerber. Mein Name ist Doktor Sandtner. Ich bin Arzt, wie Sie.

Schön. Was kann ich für sie tun?

Sind wir einander bereits begegnet?

Ich glaube nicht? Oder?

Er lebte in einer anderen Zeit, oder lebte eben nicht in ihr, sondern war an sie verloren, in sie eingefroren. Er war aus der Welt, und nicht in einer eigenen, vielmehr war er in gar keiner, war er ein Gefangener, der nicht einmal über einen Kerker oder irgendeine Zelle, nicht über einen Zusammenhalt verfügte, denn alles in ihm und um ihn zersplitterte von einem Moment zum anderen.

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