Suche nach M. Roman.
Dani konnte den vielfältigen Erwartungen nicht nachkommen: Er sollte ein Bursche sein wie alle anderen seiner Klasse, doch durfte er sein Herkommen nicht vergessen, sollte den anderen seine Gleichwertigkeit und die der Juden schlechthin beweisen, sollte mithalten in der deutschen Sprache, ja besser noch als all die übrigen sein, und gleichzeitig Hebräisch studieren, sollte die Dichter und Denker herbeten können, doch nie an sie glauben, sollte das Fremde sich aneignen, ohne sich dem Eigenen zu entfremden. Wurde er gelobt, so konnte er sich nicht freuen und sah sich bloß überschätzt. Die Großmutter sagte: »Wie Onkel Marek, der konnte sich alles merken, was er je gehört hatte, weshalb ihn niemand etwas zu fragen wagte, weil er einem genau vorrechnete, wie oft man schon die Antwort gehört, wann man ihn bereits darum gefragt hatte.« Aber er bezweifelte ihr Lob, entzog sich der Umarmung, mißtraute den Liebesbezeugungen. Er glaubte, ja wußte, den Anforderungen nicht zu genügen.
In der Schule war er bloß mittelmäßig. Wenn er einmal eine gute Note nach Hause brachte, so war es nicht die beste, und wenn es die beste war, schämte er sich vor seinen Mitschülern, auf deren Kosten er zu triumphieren meinte.
Fragte der Lehrer: »Von wem stammt ›Der zerbrochene Krug‹«, oder: »Wer schleuderte den Speer gegen Siegfried«, stand Dani auf und sagte: »Ich war's. Ich bin schuld. Ich hab's getan.«
Zu Hause sorgten sich die Eltern, und der Vater schüttelte den Kopf, schien nicht mehr stolz auf seinen kleinen Jungen, seufzte. Die Großmama klagte: »Ich weiß nicht, von wem er das hat. Aus unserer Familie bestimmt nicht«, worauf die Mutter seitlich feixte, die Brauen hob, sich an die Wand lehnte und weit aus dem Fenster sah. Sogar Manfred Schaunder, der treueste Bewunderer Danis, zündete sich eine Filterlose an, blickte hinweg über den Jungen aus dem ersten Stock und sagte: »Selbst wenn ich's gewesen wär - nie würd' ich es zugeben. Was geht dich dieser Siegfried an? Wer immer auf ihn schoß, ist doch nicht deine Sache.«
Danis Vater sank mit den Jahren in sich zusammen, schien ausgezehrt von seinen Träumen, die er für den Sohn genährt hatte, die einst in ihm geblüht und den Duft des Optimismus verströmt hatten, und die nun knorrig vertrockneten und ihn hölzern machten. Der Mann, der einst stundenlang reglos hatte liegen können, nahm auch im Stehen eine starre Haltung an. Eingesunken die Schultern, den Rücken gekrümmt.
Er ähnelte darin seinem Sohn, der - sechzehnjährig - hochgewachsen, aufgeschossen, ebenfalls Fragezeichen imitierte. Auch die Sprache des Vaters änderte sich, seine Stimme zerfaserte, verblich mit seinen Erwartungen und bog in einen Singsang ab, der von manchen als jiddisch mißgedeutet wurde, doch in Wahrheit dem Zweifel an der eigenen Existenz entsprang. Als folge die Melodie der Worte seiner geschwungenen, verschlungenen Wirbelsäule, kurvte jede seiner Aussagen in eine Frage. Wollte er sagen: »Ich bin zufrieden« - punktum -, tönte es: »Ich bin zufrieden?« - Fragezeichen. »Berger ist ein Ehrenmann«, wurde zu: »Berger ist ein Ehrenmann?« Die allerletzte Silbe dehnte er aus Unsicherheit, schraubte sie in die Höhe. Wollte er im Restaurant wissen, ob eine Speise bereitet werden könnte, so fragte er: »Kalbschnitzel haben Sie nicht«, Punkt.
Darauf der Ober: »Doch. Einmal Kalbschnitzel?«
Er bestellte: »Ich will Kalbschnitzel?«, Fragezeichen.
»Wollen Sie nicht?«
»Habe ich gesagt, ich will nicht«, Punkt.
»Was wollen der Herr?«
»Bringen Sie mir ein Kalbschnitzel?«, verlangte er ungeduldig.
Die Verwirrung des Vaters ging so weit, daß er gar in seinen Geschäftsbriefen die Interpunktion zu verwechseln begann, worauf sein Profit eher zunahm: Um einem vorgeschlagenen Angebot zuzustimmen, schrieb er: »Sie verlangen für 1 Tonne 6,7? Das ist gerecht?« Der Preis wurde unverzüglich gesenkt. S.36 ff.